Überraschungs-Unkraut

Editorial

Überraschungs-Unkraut

Sommerzeit heisst für mich Balkonzeit. Ich liebe den Blick ins Grüne, am Horizont zum Üetliberg – und auf unsere Blumen- und Kräuterpracht, die jedes Jahr üppiger wird. 

Nebst den braven Geranien oder Dipladenien in Kistchen verfügen wir über einen grossen, gemauerten Blumentrog. Winterfeste Zimmerpflanzen bekommen hier ein zweites Leben, und es wachsen Cherry-Tomaten, in schalkhafter Konkurrenz zu denjenigen der Nachbarn: Welche sind grösser, haben mehr Früchte? 

Spannend ist es, wenn etwas zu wachsen beginnt, das uns unbekannt vorkommt. Seit einigen Jahren vermehren sich gelbe und orange Ringelblumen, die wir inzwischen zurückschneiden mussten, damit sie nicht den ganzen Trog in Beschlag nehmen. Letztes Jahr rätselten wir mehrere Wochen lang, was wohl aus dem immer grösser werdenden grünen Ding mit riesigen Blättern werden wollte. Gurken? Zucchetti – oder gar Kürbis? Höher und höher wuchs der Stängel mit vielen Knospen – und als es zu blühen begann, löste sich dank Blumen-App und Pflanzenbuch das Rätsel: eine wunderbare, violett-blaue Malve beglückte uns.

Weder Ringelblumen noch Malve haben wir gepflanzt. Die Samen sind uns zugeflogen. Neugierig, wie wir sind, reissen wir nicht gleich alles aus, was nach Unkraut aussieht, und wurden nun mit gleich zwei nicht nur farbigen und schönen, sondern auch heilkräftigen Pflanzen beschenkt. Meine Freundin zaubert nämlich aus den Ringelblumen eine entzündungs-hemmende Salbe und aus den Malvenblüten eine Tinktur gegen Darmbeschwerden. 

Mein Balkon lehrt mich: Manchmal lohnt es sich, die Dinge einfach wachsen zu lassen. Was als vermeintliches Unkraut beginnt, kann als wunderbare Blume enden. Malve und Ringelblumen sagen mir: hab Geduld mit den ungelösten Dingen in deinem Leben. Manche Samen kommen unbemerkt und bringen Heilung. 

Text: Beatrix Ledergerber