Menschlichkeit bewahren

Zusammen leben? – Ethik & Ökologie  (3/5)

Menschlichkeit bewahren

Fast täglich gehe ich an grossen Schaufenstern vorbei. Sie sind leer, das Geschäft dahinter ist aufgelassen. 

Geblieben sind die Glasscheiben und darauf steht in grossen Buchstaben: «Being human is given. Keeping our humanity is a choice.» Übersetzt in etwa: «Menschsein ist gegeben. Unsere Menschlichkeit zu bewahren, ist eine Entscheidung bzw. ist eine Wahl.» Wenn ich danach frage, wie wir zusammenleben wollen, dann ist das für mich der Kern: die Humanität, das Menschsein, die Menschlichkeit. 

Die Realität ist anders. Manchmal mag ich kaum Nachrichten hören, sie erschüttern mich immer wieder, immer noch. Sie zwingen mich, die Realitäten dieser Welt anzuschauen – was manchmal kaum auszuhalten ist. Es macht mich so fassungslos, was Menschen einander antun. Es sind zwei Hinweise aus der Bibel, die für mich hilfreich sind im Ringen um die Menschlichkeit.

Am Beginn der Bibel ist der Schöpfungshymnus überliefert, aus der Zeit des babylonischen Exils um 586 bis 538 vor Christus. In einer Zeit von Krieg und Chaos und Gewalt und Deportation – genau in dieser Zeit besingt der Hymnus in Genesis 1 die Welt als geordnet und gut. Das ist Widerstand pur, das ist ein Aufstand gegen die Dominanz der Gewalt! Mitten in dieser Zerstörung jeglichen Lebens, mitten in den Grausamkeiten des Krieges ist der Hymnus ein Aufschrei, sich nicht abzufinden mit dem Bösen. Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen sagen in den ersten Zeilen der Bibel: Die Welt ist als ein guter Ort geschaffen, der Mensch als Mann und Frau und divers ist gemeinsam Bild, Abbild Gottes mit besonderer Verantwortung für alle Lebewesen. Die Erde ist Teil einer Schöpfung, eines Kosmos, in dem alle leben können wie in einem wunderschönen «Garten», so heisst es im Anschluss. Und es ist ein Garten, in dem Menschen sogar ruhen können, also nicht in Angst und ständiger Alarmbereitschaft sein müssen. Das ist Widerstand im besten Sinn, finde ich. Die Gewalt zerstört die Gegenwart und ganz viel Zukunft, aber sie wird es nicht schaffen, alle Werte und Grundhaltungen der Humanität zu zerstören. 

Gegen Ende der Bibel – gemäss dem Johannesevangelium Kapitel 19, Vers 5, führt der römische Statthalter Pontius Pilatus den gefolterten Menschen Jesus der Menschenmenge vor, mit den Worten «Seht, der Mensch!». Ein Mensch – mit Namen und Biografie, mit Eltern und Verwandten, mit Hoffnungen und Wünschen. 

Vor wenigen Tagen, am 9. Juni, wurde die Statistik der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie veröffentlicht: 2021 mussten 1656 Kinder wegen körperlicher und psychischer Misshandlung und Vernachlässigung in einer Schweizer Klinik behandelt werden. Fünf Kinder sind in Schweizer Kinderkliniken an den Folgen von Misshandlungen gestorben. Das ist für mich eine zweite zentrale Perspektive: Hinschauen, wo die Menschlichkeit verletzt wird. Hinschauen, auch wenn ich es nicht sehen will. 

Das Thema wird mich begleiten: Was ist der Mensch und was macht es aus, sich immer wieder neu für die Menschlichkeit zu entscheiden? «Being human is given. Keeping our humanity is a choice.» Vermutlich geht es darum – unsere Menschlichkeit zu bewahren, in allen Lebensbereichen.

Text: Helga Kohler-Spiegel