Entscheidungen mit Spätfolgen

Zusammen leben? – Ethik & Ökologie  (4/5)

Entscheidungen mit Spätfolgen

Vielleicht ist Ihnen meine Heimat bekannt: Vinschgau in Südtirol. 

Die Region ist der oberste Teil des Etschtals und erstreckt sich über rund 70 Kilometer, vom Reschenpass nach Töll, bis kurz vor Meran. Sie liegt zentral inmitten der Alpen, die an dieser Stelle gut 250 Kilometer breit sind. Umgeben ist der Vinschgau von zahlreichen Bergen mit über 3000 Metern Seehöhe, was ihn zu einer der geschlossensten Landschaften der Ostalpen macht. Wetterextreme aus Nord und Süd werden so abgemildert. Es regnet äusserst selten, gleichzeitig scheint die Sonne überdurchschnittlich viel – beides ist allerdings ungünstig für die Landwirtschaft. Der Vinschgau ist eines der trockensten Täler der Alpen. 

In früheren Zeiten haben die Menschen genau diese Umstände zu nutzen gewusst und Korn angebaut. Der Vinschgau galt als «Kornkammer Tirols» und hat weite Teile des ehemals grossen Österreich-Ungarn mit Korn versorgt. Auch die «Vinschger Marille», die mit wenig Wasser auskommt, ist ein geschmackvolles und geschätztes Produkt. 

Wer allerdings heute durch das Tal reist, wird kaum mehr Korn finden. Äpfel in allen Varianten werden angebaut, bis in eine Höhe von über 1000 Metern Seehöhe. Daran ist nicht nur der Klimawandel schuld. Schuld ist auch die Tatsache, dass mit Äpfeln richtig Geld gemacht werden kann. 

Dass man damit an Grenzen stösst, hat uns der Krieg in der Ukraine unsanft in Erinnerung gerufen. Produkte wie Mehl oder Sonnenblumenöl waren über Wochen ausverkauft und sind es zum Teil bis heute. Der profitorientierte Wandel von der «Kornkammer Tirols» zum Anbau von Äpfeln ist nun teuer zu bezahlen – nicht nur, weil er viel Wasser verbraucht und den verstärkten Einsatz von Pestiziden erfordert. Hätte der Vinschgau die gleichen Getreideflächen wie um etwa 1900, wäre die Region ein Getreideexporteur. 

Mit Fug und Recht kann ich behaupten, dass hier jedes nachhaltige und ökologische Bewusstsein abhandengekommen ist. Natürlich gilt das nicht nur für den Vinschgau, viele andere Regionen sind ebenso betroffen. Überall, wo ursprüngliche Erzeugnisse aufgegeben und aus der Ferne bezogen werden, zeigen sich ähnliche Phänomene. Eines davon sind unterbrochene Lieferketten. Begonnen hat es während der Pandemie. Mitunter leere Regale bei Grundnahrungsmitteln und Preissteigerungen vor allem in ärmeren Ländern könnten uns in einen fatalen Kreislauf führen. 

Kürzlich erzählte mir ein Bekannter von seinem grossen Auto: Sein 200 000 Franken teures SUV stand einige Zeit still, weil ein kleines Teil nicht verfügbar war. Es wird in Russland hergestellt. Diese Situation kommt mir absurd vor – und ist wohl nur eine von vielen vergleichbaren. Sie sind die Quittung einer jahrzehntelangen Masslosigkeit, die sich jetzt rächt. 

Stimmen, die genau das angemahnt hatten, wurden belächelt und überheblich beiseitegedrückt.

Text: Mario Pinggera