Zeit für mich

Narrenschiff

Zeit für mich

Wie genial ist das denn: Massentourismus wird durch Individualreisen ersetzt! 

Das Wording der Tourismusbranche verpasst uns ein komplett neues Lebensgefühl. Beschwingt gehen wir durch Rom, denn wir sind total individuell unterwegs, ganz ohne die Massen von Touristen, die sich hier früher durch-gezwängt haben.

Ganz persönlich ist auch die Reisevorbereitung. Datenbanken kommen auf Hausbesuch und beraten mich mit einem exklusiven Algorithmus. Ebenso individuell die Buchung: ein intimes Ding zwischen mir und meinem Personal Computer. Wir lieben uns, zoffen uns, vergeben und vergessen bei einem grossen Glas vom Roten.

Und wie frei atme ich erst in der endlosen Serpentine am Flughafen und der Anhaltsamkeitsübung am Gotthard. Ich lasse auf dem Bahnsteig die Seele baumeln, während die Verspätungsminuten aus der Lottomaschine purzeln.

Dann aber geht’s vorwärts: «Bitte beachten Sie, dass die Wagen heute in umgekehrter Folge verkehren.» Was für ein Egotrip, vom einen Ende des Zuges zum anderen. Dabei ergeben sich die ersten spontanen Herzlichkeiten zwischen kommunikativen Individualreisenden. «Das ist nicht ihr Ernst: ihr Gepäck mitten im Gang!» – «Legen Sie ihren Rotzlöffel in Ketten!» – «Das ist mein Platz!» – «Das ist mein Platz!!» – «Das ist mein Platz!!!»

Wo immer ich am Ende zu sitzen komme, in mir breitet sich Genugtuung aus: «Es ist so richtig, dass ich mir eine Auszeit vom Alltag gönne.» Und dankbar preise ich meinen Schöpfer, der mich nicht in einem militärisch organisierten Bienenschwarm unterwegs sein lässt, sondern in einem libertären Hühnerhaufen.

Und dann: la mer – il mare – die Nordsee! Im Gewoge der Wellen gehe ich meinen ganz eigenen Rhythmus: Morgens um vier spurte ich leichtfüssig zum Strand. Keine Menschenseele da. Jubel bricht sich Bahn: Ich kann meine Individualausrüstung genau dort hinstellen, wo ich sie schon immer haben wollte. Ganz nah am Mare und ganz weit vom Hundestrand. Die nächste Stunde begrüsse ich andere Individualreisende, die sich mit langem Gesicht in Richtung Hundestrand quälen. Meine Ferienstimmung gewinnt Überhand. Mit einem gestreckten Mittelfinger im Herzen.

Den Rest meiner Individualzeit poste ich Selfies vom Strand, vom Balkon, vom Sonnenuntergang, vom Gyros. Bilder, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Nach zwei Wochen Strandbesetzung bin ich fit wie Flipflop und reif für mein Zuhause. Die Heimreise geht los. «Bitte beachten Sie, dass …» In meinem Gepäck, das im Zug für angeregten Gesprächsstoff sorgt, liegt wohlversorgt jenes Kunsthandwerk, das die Einheimischen ausschliesslich mir verkaufen, weil man mir nach zwei Wochen Individualreise den Touristen gar nicht mehr ansieht. Und zu Hause wartet ein Bankkonto auf mich, das ich höchstpersönlich leergeräumt habe.

Text: Thomas Binotto