Wankendes Gottesbild

Zusammen glauben? – Gottesbilder (1/5)

Wankendes Gottesbild

«Als glaubende Person hast du festen Boden unter den Füssen und tiefe Gewissheiten im Herzen, nicht wahr?» Unvermittelt steht diese Frage beim Gespräch im Freundeskreis im Raum. 

Spontan und fast ein wenig heftig verneine ich. «Im Gegenteil. Mein Glaube wird laufend erschüttert, und vermeintliche Gewissheiten lösen sich immer wieder auf!» Denn gehe ich der Sache auf den Grund, stelle ich fest: mein Glaube an das Gute im Menschen und daran, dass mit viel Liebe Beziehungen auch nach Verletzungen geheilt und wiederhergestellt werden können, wankt gerade sehr, einerseits durch den Krieg in der Ukraine und andererseits im persönlichen Umfeld. An diesem Glauben hing auch mein Gottesbild: Lange trug ich die Gewissheit in mir, dass Friede, gute Beziehungen, eine bessere Welt möglich sind, wenn wir uns nur mit Gott verbünden, der Quelle der Liebe und des Friedens.

Was jetzt? Einsehen, dass das alles nicht möglich ist? Traurig und mutlos werden? Schauen, dass es wenigstens mir und den Nächsten um mich herum gut geht? Mitten in diesen Fragen begegnet mir ein Satz von Karl Rahner: «Man kann das Leben mit Formeln der Wissenschaft meistern. Wenigstens auf weite Strecken mag das gelingen (...). Der Mensch selber aber gründet im Abgrund, den keine Formel mehr auslotet. Man kann den Mut haben, diesen Abgrund zu erfahren als das heilige Geheimnis der Existenz und der Liebe. Man kann es Gott nennen.»

Da kommt mir ein ganz anderes Gottesbild entgegen. Im menschlichen Abgrund, im Nicht-Verstehen, Nicht-Nachvollziehen-Können, ja in den Grausamkeiten, zu denen Menschen fähig sind, und in der eigenen Schuldhaftigkeit – können wir vielleicht in all dem das heilige Geheimnis der Existenz und der Liebe erahnen? 

Nach dem Tod meines Vaters hat meine Mutter auf dem Küchentisch Zettel gefunden, auf denen er nachts, wenn er nicht schlafen konnte, die jeweilige Zeit notierte und was ihm gerade durch den Kopf ging – auch ganz Banales: «Ein Guetzli gegessen.» Auf einem dieser Zettel steht: «Gott ist gegenwärtig im Modus der Abwesenheit. – Im Bett diese ‹Gegenwärtigkeit› geduldig festhaltend.» Und ein paar Stunden später eine neue Notiz: «Wieder zu Bett, von Gott ‹umweht›.»

Ich bin sprachlos. Ist Gott heute gegenwärtig im «Modus der Abwesenheit»? In der Abgründigkeit der Existenz? In der Ungewissheit des Lebens? In der Nähe des Todes?

«Spektrum» nennt es mein Sohn in einem unserer nächtlichen Philosophie- und Glaubensgespräche. «Es gibt nicht links oder rechts, nicht gelungen oder gescheitert, nicht ja oder nein; Alles ist ein Spektrum, mit unendlich vielen Zwischentönen.» Das Geheimnis vermutet er aber nicht in der perfekten Balance, dem einen richtigen Zwischenton, sondern in der Integration des gesamten Spektrums. «Links und rechts, schwarz und weiss, ja und nein und alle Zwischentöne gehören zu uns und zum Leben», sinniert er.

Letztendlich geht es ums Eintauchen in die Existenz, ins Sein, in das, was ist, wie es ist. Mit allen Zwischentönen. Ohne zu werten, sondern einfach ganz annehmen. Und in dieser Annahme den Raum für das Geheimnis öffnen, die göttliche Kraft, die verwandelt, stärkt, Orientierung gibt und zum Leben führt.

Text: Beatrix Ledergerber