Die gute Mitte zwischen Extremen

Editorial

Die gute Mitte zwischen Extremen

Dem wilden Rosenstock, der in der Nähe meiner Haustüre wächst, habe ich in letzter Zeit manchmal einen Kübel Wasser vorbeigebracht. Ich wäre nicht böse, der Himmel würde mir das mal wieder abnehmen. 

Plötzlich regnet es. Dann aber richtig. Dicht an dicht knallen die Wassertropfen auf den Asphalt und Bäche entstehen überraschend schnell, allerdings mitten auf der Strasse. Endlich! Aber: Mit dieser Gewalt? Es tobt, auch in meinem Kopf: Ob das nun wieder der Ernte guttut? Dem Getreide und dem Wein? Was wird aus «meiner» Rose? Inmitten der Bilder und Gedankenfetzen fetzt ein Blitz hinein ins Häusermeer. 

Es sind doch zunehmend Extreme, die wir gerade erleben. Dürre und Flut. Krieg. Kriege. Die Verbreitung von Viren. Politische Radikalisierungen. Wir merken es, auch weil wir es lesen und hören. Dass Wissen den Horizont erweitert, wird hier mitunter zur Last. Extreme. Wo es viel hat, hat es bald viel zu viel, und zu wenig hat es sowieso meist. Wo hat es genug, und gibt es das überhaupt: «genügend»?

«Genügend» wäre ja: weniger als viel, und viel mehr als zu wenig. Eine gute Mitte gerade zwischen Extremen. Gelingt mir eigentlich «eine gute Mitte», irgendwo, auch nur im ganz Kleinen? 

Einstweilen fülle ich den Kübel mit Wasser, giesse die eine wilde Rose in der Nähe meiner Haustür. Und hoffe, dass der Himmel dann bald einmal das Eigentliche schenkt. 

Text: Veronika Jehle