«Es muss weh tun»

Interview

«Es muss weh tun»

Wer gegen das Gesetz verstösst, muss bestraft werden. Darüber sind wir uns weitgehend einig. Doch nützen die Strafen tatsächlich etwas? Hans Willi, Strafrichter beim Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland, ist überzeugt: Strafe muss sein.

Hans Willi, wie halten Sie es als Vater eines Teenagers mit dem Thema Strafen?

Hans Willi: Da bin ich weitaus weniger streng und konsequent. Es ist bei mir zu Hause wie so bei vielen anderen Familien: Ewiger Zankapfel zwischen den Eltern und dem 11-Jährigen ist der Konsum von digitalen Medien. Ähnlich wie bei Straftätern hilft die sanfte Ermahnung meist nicht. Als erzieherische Massnahme zeigt der unbedingte Entzug weit mehr Wirkung (lacht).

Und wie sehen Sie das als Strafrichter? Was ist Ihrer Meinung nach eine gerechte Strafe?

Pauschal lässt sich dies nur schwer beantworten. Wir beurteilen als Richter jeden Fall autonom. Meiner Ansicht nach ist eine Strafe dann gerecht, wenn sämtliche Parteien etwas unzufrieden mit dem Urteil sind. Wenn ich merke, dass alle Seiten das Strafmass zähneknirschend akzeptieren, habe ich als Richter die Gewähr, dass ich ziemlich genau die Mitte des Spielraums getroffen habe, den das Gesetz zulässt.

Ist eine Strafe der einzige Weg, um Delinquenten zur Räson zu bringen?

Es werden auch immer wieder andere Ansätze diskutiert, wie beispielsweise «Restorative Justice». Die Grundidee dabei ist, dass der Schädiger unmittelbare Verantwortung für seine Tat übernimmt und diese direkt beim Opfer versucht, wiedergutzumachen. Wie dies aber beispielsweise bei einem Mord geschehen soll, ist mir schleierhaft. Auch Fälle, wo gemeinnützige Arbeit ausgesprochen wurde, zeigten, dass die Rückfallquoten praktisch identisch sind mit Fällen, bei denen herkömmliche Strafen wie Bussen oder Freiheitsentzug verhängt wurden. Unser Rechtssystem ist nach meinem Empfinden sehr nahe am realisierbaren Optimum.

Sie sind also der Überzeugung, dass Strafe sein muss?

Ja. Ein Delikt braucht nach meinem Rechtsempfinden eine Art von Sühne. Ermahnung allein nützt nichts oder nur sehr wenig und würde im absoluten Chaos enden. Es muss schon weh tun, bis die Meisten aus ihren Fehlern lernen.

Die hohen Rückfallquoten bei Straftätern zeichnen aber ein anderes Bild …

Unbelehrbare gibt es immer und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Resozialisierung nach einer Haftstrafe nur bei einem sehr kleinen Teil gelingt. Die meisten Strafmasse, die wir aussprechen, münden aber nicht im unbedingten Strafvollzug, sondern sind Bussen oder bedingte Freiheits- oder Geldstrafen. Gerade bei Ersttätern erzielt man damit oft die gewünschte Wirkung und es bleibt bei einer einmaligen Verurteilung.

Hans Willi versucht, jedem Fall individuell gerecht zu werden. Das Urteil ist dann in erster Linie ein Kopf-entscheid. Foto: Ana Kontoulis

Gibt es auch Baustellen in der Gesetzgebung?

Elementare Defizite könnte ich keine nennen. Unsere Gesetze werden laufend von der Politik nachjustiert und im Idealfall optimiert. Mein persönlicher Eindruck ist aber, dass sich in der Schweiz immer mehr eine Verbotskultur breitmacht.

Wie meinen Sie das?

Jedes Jahr werden noch mehr zusätzliche Gesetze eingeführt und die Menschen in ihrem Handeln zusehends eingeschränkt. Diese Entwicklung beobachte ich mit Besorgnis. In unserer Gesetzgebung ist bereits ein mannigfaltiges Spektrum an möglichen Tatbeständen geregelt. Da müssen wir nicht noch für 700 eventuelle Spezialfälle neue Artikel kreieren.

Und wie sieht es bezüglich der Strafrahmen aus?

Mit den vorgegebenen gesetzlichen Strafrahmen kann ich grundsätzlich sehr gut leben und arbeiten. Mühe bereitet mir unser Gesetz einzig dann, wenn wir als Urteilssprecher null Ermessenspielraum zur Verfügung haben. Dies ist beispielsweise beim sogenannten Rasergesetz der Fall. In solchen Fällen ist das Mindeststrafmass klar vorgegeben: Wenn ich auf der Autobahn an einem verkehrsarmen Dienstagvormittag sechzig Stundenkilometer zu viel auf dem Tacho habe, kriege ich dieselbe Strafe aufgebrummt, wie jemand, der an einem schönen Sonntagnachmittag innerorts auf einer beliebten Fahrradstrecke fünfzig Kilometer pro Stunde zu schnell fährt und damit grobfahrlässig Menschen in Gefahr bringt. Ich muss alle über den selben Kamm scheren, was meinen Grundsätzen als Richter widerstrebt.

Lassen Sie dort, wo Sie Ermessensspielraum haben, die persönlichen Umstände der Angeklagten in Ihre Beurteilung einfliessen?

Wenn wir die Möglichkeit haben: ja. Das sind wir den Angeklagten, aber auch den Klägern schuldig. Jeder Fall ist anders, hat eine andere Geschichte. Dem versuchen wir, wenn irgendwie möglich Rechnung zu tragen – natürlich 
immer innerhalb des gesetzlichen Rahmens.

Bei einer Gerichtsverhandlung legen alle Seiten ihre Sichtweise dar. Ist das ähnlich wie in der Schule: Wer eloquent und empathisch präsentiert, schneidet besser ab als der introvertierte, abweisend wirkende Stammler?

Wir Richter sind keine Übermenschen, weshalb auch wir manche Angeklagten sympathischer finden als andere. Diese weichen Faktoren müssen wir aber spätestens in der Phase der Urteilssprechung ausblenden und uns auf die harten Fakten fokussieren. Ein Urteil muss in erster Linie ein Kopfentscheid sein, mit einer wesentlich kleineren Portion Bauchgefühl.

Apropos persönliche Empfindungen: Zwei Tage nachdem wir dieses Interview führen, müssen Sie über einen Fall entscheiden, bei dem mitunter dem Angeklagten mehrfache sexuelle Handlungen mit einem Kind vorgeworfen werden. Wie schlafen Sie vor so einer Verhandlung?

Grundsätzlich immer gut. Klar, der beschriebene Fall blendet in die tiefsten Abgründe eines Menschen hinein und ich verabscheue die angeklagten Taten zutiefst. Aber dies alles muss und kann ich ausklammern. Mich treiben vor einer solchen Verhandlung viel mehr die rechtlichen Fragen und die Vorbereitungen um. Habe ich alle Eventualitäten berücksichtigt? Welche Artikel sind relevant?

Wenn Sie und die übrigen Richter hauptsächlich anhand der Fakten entscheiden, wozu sind dann noch die persönlichen Anhörungen der Parteien nötig?

Bei einem Prozess sind die Akten das eine, der persönliche Eindruck das andere. Beim Gros der Straffälle gibt es nicht nur Schwarz und Weiss.

Aber Sie haben doch gerade betont, dass das Persönliche aussen vor bleiben sollte …

So absolut lässt sich das nicht sagen. Nehmen wir das Beispiel Sexualdelikt. Nur anhand der Strafakten zu entscheiden, ob eine Vergewaltigung vorliegt oder nicht, kann enorm schwierig sein. Die mündliche Verhandlung ist gerade in solchen Fällen elementar, damit sich jeder Richter, jede Richterin ihr persönliches Urteil bilden kann. Dann kommt der angesprochene Ermessensspielraum zum Tragen und wir entscheiden nach dem Mehrheitsprinzip, wem wir mehr Glauben schenken. Das macht unsere Arbeit so spannend und gleichzeitig anspruchsvoll.

Dann gehen Sie nie mit einer vorgefertigten Meinung in den Gerichtssaal?

Ich bilde mir mein abschliessendes Urteil immer erst nach den Anhörungen. Wenn wir alle schon mit unserer unwiderrufbaren Meinung in den Saal kämen, die wir uns anhand der Akten gebildet haben, könnten auch Algorithmen über Schuld oder Unschuld befinden. Die subjektive Einschätzung der Richter sollte unbedingt bei jedem Urteil, das einen gewissen Ermessensspielraum zulässt, mit einfliessen.

Was fragen Sie die Parteien während der Anhörung, was nicht in den Akten steht?

Meine erste Frage ist immer: «Wie fühlen Sie sich?» Die meisten Menschen auf der Anklagebank haben Angst vor der Verhandlung und dem Urteilsspruch und fühlen sich ausgesprochen unbehaglich. Danach folgen meist persönliche Fragen wie «Was ging in Ihnen während der vermeintlichen Tat vor?» oder «Würden Sie wieder so handeln?» Anhand der Antworten kann ich mir einen Eindruck verschaffen, ob der Angeklagte beispielsweise Reue empfindet oder ob er äusserst abgeklärt wirkt.

Hatten Sie nach einem Urteilsspruch auch schon das Gefühl, eine ungerechte Strafe ausgesprochen zu haben?

Bisher habe ich noch nie so empfunden. Ich stehe hinter den Entscheiden des Gerichts, selbst dann, wenn ich mit meinem Standpunkt im Richtergremium unterlegen bin.

Auf Ihrem Tisch landen mehrheitlich Akten von Straftaten. Wie kann man dabei optimistisch bleiben?

Indem man sich auf die Tatsache konzentriert, dass nur ein kleiner Teil unserer Mitmenschen im juristischen Sinn straffällig wird. Der viel grössere Rest verhält sich korrekt.

Text: Rosalie Manser, Pfarreiforum St. Gallen