Früher war alles besser mit mir

Narrenschiff

Früher war alles besser mit mir

Früher ging ich spielend leicht in den Handstand. Früher sah ich aus wie George Clooney auf jung. 

Früher war mein Gedächtnis ein Solid-State-Drive (das steckt heute in meinem Laptop). Früher war ich ein Sponti vor dem Herrn. Und heute? – Heute trauere ich all dem nach, was ich früher mal war: Schneller, besser, schöner.

Wenn ich allerdings meine Jugendfreundinnen und Jugendfreunde in meine Trauerarbeit über verlorene Fähigkeiten einbeziehe, gerät das Gejammere brutal ins Stocken. Besonders ungnädig reagieren wie immer meine Brüder. «Hab dich nie im Handstand gesehen.» – «Gedächtniswunder? – Kannst du dich echt nicht mehr an das Debakel erinnern, als du kein Aufgabenheft führen wolltest?» – «Clooney? – Ich sag nur Butterpapierli-Stirne!» – «Sponti? – Beim Tanzen?» – Glücklicherweise lassen sie jeweils schnell von mir ab, weil sie ihr eigenes Gejammer anstimmen wollen. Und dann schlägt meine Stunde.

Ich bin mir selbst je älter je länger ein Rätsel: Mit jedem Jahr ist es um meine Fähigkeiten in der Jugend grandioser bestellt. Was ich nicht alles konnte, damals, in den guten jungen Zeiten! Und so trauere ich hemmungslos Fähigkeiten nach, die ich – historisch-kritisch betrachtet – gar nie genutzt habe, weil ich damit beschäftigt war, lesend und hörend im Bett zu liegen. Wenn's nostalgisch ganz dicke kommt, vergiesse ich sogar bittere Tränen über Fähigkeiten, die ich gar nie hatte.

Kaum haben meine Brüder meine Selbstwahrnehmung wieder mal zurechtgerückt, ergehe ich mich in Wehmütigkeit über all die Chancen, die mir vom Schicksal verwehrt wurden: Das Studium in Oxford. Die Karriere in Hollywood. Das Ferienhaus am Lago Maggiore. Ich habe allerdings gelernt, diese Wehmut für mich zu behalten, denn sonst heisst es von meinen Nächsten wieder nur: «Du hast es doch gar nie ernsthaft versucht, du Sponti du!»

Ich will aber meiner Jugend nachhängen! Ich will, ich will, ich will! – Dreimal aufgestampft und endlich haben meine Lieben Erbarmen mit mir: «Du warst ein paar Kilogramm leichter.» – «Du hattest etwas weniger schütteres Haar.» – «Du bist mal jünger gewesen.»

«Lasst es gut sein, ich hör auf zu täubelen.» – Und denke mir insgeheim: «Aber die Schulmeisterschaft im Fünfkampf, die habe ich gewonnen wie ein Weltmeister, das weiss ich ganz genau!»

So. Bin wieder runtergekommen. Ich erinnere mich halt gerne an meine Jugend. Auch wenn ich nicht ganz so viel verloren habe, wie von mir beklagt. Aber ist das wirklich so schlimm? Zu denken gibt mir nämlich Folgendes: wenn mich Boten aus der Vergangenheit mit einem fröhlichen «Du hast dich überhaupt nicht verändert!» begrüssen, dann bin ich damit auch nicht wunschlos glücklich.

Text: Thomas Binotto