Religiöse Selbstoptimierung?

Aus dem Islam

Religiöse Selbstoptimierung?

Während dem diesjährigen Fastenmonat Ramadan war ich erstmals nach langer Zeit beruflich nicht komplett ausgelastet. 

Ich freute mich, mir Zeit für spirituelle Selbstfürsorge, für Familie und auch für intellektuelle Nahrung über den Islam zu nehmen. Ich hatte mir viel vorgenommen. 

Allerdings: Kann es sein, dass ich einen Aufgabenkatalog abarbeiten muss, um einen möglichst spirituellen Fastenmonat zu verbringen und die bestmögliche Version meines Selbst zu werden? Das ist zwar etwas überspitzt formuliert, den Katalog gibt es allerdings tatsächlich und er ist auch in Papierform erhältlich: «Ramadan Planer» betiteln ihn die muslimischen Influencerinnen und Influencer auf Instagram. In diesem Tagebuch können zum Beispiel die Ziele für den Tag und Verbesserungsempfehlungen für den Folgetag festgehalten werden. Damit soll ständig das beste erreichbare Resultat ermöglicht werden –wohl eine Erscheinungsform des allgemeinen Zeitgeistes. Es gilt, immer besser zu werden, beruflich und privat. Aussehen, Abschlüsse, Beruf, aber auch Freundinnen, Freunde und Hobbies unterliegen einem kapitalistischen Wettbewerb, der vielerlei Felder des Lebens beherrscht. Und nun auch die religiöse Praxis. 

Religionen haben aus meiner Sicht auch einen intrinsischen Auftrag, dem Menschen Impulse für die Selbstreflexion und zur wechselseitigen Beziehung zu seiner Mitwelt zu geben. Meine persönliche religiöse Praxis ermöglicht es mir zum Beispiel, mir meine Verantwortung für meine Mitmenschen und die Gesellschaft als Ganzes bewusst zu machen. In diesem Sinne kommen die persönliche Selbstoptimierungsversuche auch der Gesamtgesellschaft zugute. Auch soziale Bewegungen fordern nebst strukturellen Veränderungen auch von Einzelnen eine Reflexion und Verbesserung ihres Handelns. Exemplarisch können wir dies am Diskurs zum Umgang mit Mitmenschen oder in der kritischen Reflexion unserer Beziehung zur Erde beobachten. Diese Diskurse werden heute differenzierter und vielstimmiger geführt als noch vor ein paar Jahrzehnten oder gar Jahren. Harte Arbeit an sich selbst kann also konkret zu Besserungen im Zusammenleben führen.

Was kritisiere ich also? Den permanenten Druck, der gesellschaftlich diktiert wird und viele von uns stark internalisiert haben. Es gibt kaum mehr Lebensbereiche, in denen man einfach sein kann, ohne dass Erwartungen an einen herangetragen werden oder ohne dass man das Gefühl hat, auch noch etwas anderes oder was man tut, noch besser machen zu müssen. Selbst wenn es um die Religionspraxis und die Beziehung zu Gott geht. Aber führt ein ständiges Streben nach Zielen, die nie erreicht werden können, nicht vielmehr dazu, dass Überforderung und Frustration in unserer Gesellschaft Überhand nehmen?

Der Optimierungs- und Perfektionierungswahn ist aus meiner Sicht auch schwierig mit einem Verständnis von Gott als barmherzig oder Religion als Quelle für Kraft zu vereinen. Die Beziehung zu Gott ist zwar mit Geboten und Verboten verbunden, aus meiner Sicht aber nicht an Bedingungen geknüpft. Sie basiert vielmehr auf einer unbedingten und grundlegenden Liebe. Ein befreundeter Theologe, Kerem Adıgüzel, vermittelt in seinen Predigten anhand mehrerer Koranverse: «Ich bin würdig und würdevoll, allein weil ich als Geschöpf Gottes existiere. Ich muss nicht erst meine Würde beweisen.» Eine wohlwollende Sicht auf den Menschen und vor allem auch auf sich selbst. Die Zuversicht, dass wir genug sind. 

Text: Zeinab Ahmadi