Der kleine Prinz

Porträt

Der kleine Prinz

Mehr als 40 Jahre lang war er für die Katholische Kirche im Kanton Zürich im Einsatz, 22 davon in Winterthur: Hugo Gehring, Pfarrer und Dekan, tritt in den Ruhestand.

«Ich war noch nie in Lissabon», stellt Hugo Gehring fest und schiebt sogleich nach, dass er damit aber gut leben könne. Auch in St. Petersburg sei er noch nie gewesen, obwohl es dort bestimmt auch noch schön wäre, so glaubt er. Hugo Gehring, vor kurzem 70 Jahre alt geworden, lebt seit dreieinhalb Jahren mit einer schweren Krankheit. Träumt er von Lissabon oder von St. Petersburg, dann um zu sagen, dass er noch nicht alles erlebt hat, was er noch erleben wollte. Und wäre er gesund, würde er in seinem nächsten Lebensabschnitt tun, was er immer schon gern getan hat: Reisen organisieren und begleiten. Nur im Kopf weiss er, dass sich seine Lebensqualität in absehbarer Zeit verschlechtern wird. Der Prostatakrebs hat Ableger in den Knochen gebildet, Diagnose unheilbar.

Selbst ihm, der Gestalt eines selbstbewussten, starken Pfarrers, zeichnen sich jetzt nach und nach die Jahre ins Gesicht. Mit ihnen auch etwas von der Krankheit. Bis er zu erzählen beginnt – als könne er sich mit seinen eigenen Geschichten selbst verzaubern, weg von der Realität im Kopf: «Ich fühle mich wie gesund und von daher geht es mir gut.» Er gibt zu, dass er sich damit durchaus selbst überrasche, sei er doch von Natur aus eine «eher ängstlich-zögerliche» Person: «Plötzlich lebe ich ganz gelassen», sinniert er. Er lebe von Tag zu Tag, von Woche zu Woche.


Verantwortung übernehmen für das Vertraute

Zügigen Schrittes läuft Hugo Gehring voraus, die wenigen Meter von der Eingangstüre des Pfarrhauses von St. Peter und Paul zum Besprechungszimmer. Noch bevor wir uns an den runden Tisch gesetzt haben, stellt er seine Fragen. Die Kerze, die in der Mitte steht, zündet er nicht an. Auch das Licht bleibt aus, das Fenster zu öffnen, scheint unwichtig. Wärme, Licht und so eine erfreuliche Frische werden sich dennoch ausbreiten. Allerdings aus seinen Erzählungen heraus. Aus seinen Worten heraus. Sätze kann er sagen, die druckreif sind, einfach so. Und auch wenn es nicht das Wiener Burgtheater ist, an dem er Stammgast ist, sondern das Casinotheater Winterthur: Er spricht eine ausgesprochen schöne Sprache. Da sind wir beim Eigentlichen. Hugo Gehring sagt von sich selbst, dass er «ganz eigentlich» ein Mann der Worte, Erzählungen und Geschichten sei. Sie sind es auch, zusammen mit den Ritualen und Liturgien, die ihn seit jeher an der Kirche faszinieren. «Die Welt des Zaubers gehört zu mir, jenseits der messbaren Realität.»

Naheliegend, ihn zu fragen, ob es eine Geschichte gibt, die ihn momentan begleitet. Natürlich gibt es eine. Naheliegend, eine aus der Bibel zu erwarten. Hugo Gehring braucht nicht nachzudenken: «Mein wichtigster Text, die heiligste Schrift, die ich kenne: Der kleine Prinz.» 

 

Die Erzählung des französischen Autors Antoine de Saint-Exupéry aus dem Jahr 1943 begleitet Hugo Gehring, seit er sie als 10-Jähriger in einem Marionettentheater gesehen hatte. «Tausend Mal» habe er sie damals in Folge in seinem eigenen Kasperlitheater nachgespielt, und die Geschichte in weiten Teilen auswendig gewusst. Jetzt, zu seinem 70. Geburtstag, spielt sie wieder eine grosse Rolle. Vor allem die Erkenntnis daraus, zeitlebens für das verantwortlich zu sein, was einer sich vertraut gemacht hat: «Ich bin ein extrem treuer Mensch und bin so zum Begleiter von vielen Biographien geworden. Wenn mir einmal etwas gefällt, dann mache ich das stur, bis es nicht mehr geht. Das hat eine zwanghafte Seite – und es hat eine Beziehungsseite. Ich bin nicht sprunghaft. Ich bleibe treu, auch wenn 
etwas nicht so gut läuft.»  


Kein zweiter Papst

In Hugo Gehrings Leben ist nicht immer alles gut gelaufen. Es gab eine Zeit, da hätte er gern eine Stelle als Priester in einer Pfarrei gefunden. Nach seinen ersten Jahren als Vikar hatte er übergangsmässig die Pfarrei in Bülach geleitet, ehe ein neuer Pfarrer kam. Der machte ihm schnell klar, dass er nicht neben ihm Pfarrer sein wolle. Als er sich in anderen Pfarreien bewarb, bekam er lauter Absagen: «Nur das nicht! Wir wollen keinen zweiten Papst in unserer Pfarrei», so fasst Hugo Gehring seinen Eindruck zusammen, was er damals zu hören bekam. Er, der von sich selbst weiss, dass er ein «Alpha-Tier» ist, musste sich seinen schwierigen Seiten stellen: «Meine Dominanz kann zum Problem werden.» Auch habe er gemerkt, dass er mitunter eher polarisiere als integriere. So gebe es «Leute, die meine Fans sind, und solche, die mich nicht mögen». Nicht kleinlaut, aber doch im Anklang vorsichtig sagt er: «Ich habe das Gefühl, wenn mir jemand lange Zeit eine Chance gibt, dann wachse ich an Sympathie.» 

Möchte ein Priester in den Ruhestand treten, schreibt er dem Bischof einen Brief zur Demission. Hugo Gehring hat in seinem Schreiben an Bischof Joseph Bonnemain unter anderem formuliert: «Natürlich bin ich nicht ohne Verwundungen durch die kirchliche, aber auch zunehmend säkulare gesellschaftliche Situation geblieben.» Hugo Gehring erlebt um sich herum eine «Dienstleistungsmentalität», Menschen also, die sich auch in der Kirche bedienen «wie im religiösen Supermarkt». Er ist überzeugt: «Wenn wir als Kirche überleben wollen, dann müssen wir im Gegenteil Menschen haben, die eine Mitgliedschaft leben, weil sie unser Selbstverständnis teilen: dass wir nämlich eine Glaubensgemeinschaft sind, die aus einer Botschaft lebt.» Ob das Überleben der Kirche für ihn in Frage stehe? «Nicht weltweit, aber hier in Europa lässt sich dem Eindruck kaum ausweichen, dass wir eine sterbende Kirche sind.» Die Ursachen dafür sieht er auch bei der Kirche selbst. Sie stehe sich selbst im Weg: «Wir haben gegen die Naturwissenschaften gekämpft, dann gegen die Arbeiterbewegung. Wir haben die Entwicklung der Frau nicht mitgekriegt, jetzt steht die Debatte um Diversity an» – sein Tonfall ist anwaltschaftlich geworden und die Wut dahinter versteckt sich nicht: «Das sind Zeichen der Zeit!» 
Zum unscheinbaren Ursprung

Würde Hugo Gehring die Geschichte seines bisherigen Lebens niederschreiben, würde er an den Ursprung gehen mit seinem ersten Satz: «Es begann ganz unscheinbar.» Als seine Mutter, bereits 37 Jahre alt, schwanger gewesen sei, mit ihm, ihrem ersten Kind, habe man ihr gesagt, dass sie wegen ihres hohen Alters womöglich Schwierigkeiten zu erwarten hätte. Seine Geburt sei dann allerdings sehr schnell und problemlos verlaufen. «Meinen nächsten Schritt mache ich in der Gewissheit, dass bisher all meine Lebensübergänge gelungen sind.» 

Text: Veronika Jehle