Sonntag. Ruhetag.

Leben in Beziehung

Sonntag. Ruhetag.

Auf dem Lötschentaler Besinnungsweg im Unesco-Weltnaturerbe: Es ist still, nur noch einzelne Grillen zirpen, die Lonza rauscht im Hintergrund. Wir sprechen kaum.

«Was für grosse Krokussli!», bemerke ich erstaunt. «Hallo!? Es ist doch nicht Frühling – das sind Herbstzeitlosen!», lacht meine Freundin. So leicht kann man sich täuschen! Aber Vorsicht! Zauberhaft schön ist diese lilafarbene Blume, doch versehen mit tödlichem Gift: Im Frühling ähneln ihre Blätter dem beliebten Bärlauch. Es kann sogar sein, dass die beiden direkt nebeneinander wachsen. Die Krankheitsverläufe sind meist tödlich. Hingegen entfaltet der Bärlauch als Heilpflanze seine Wirkkraft gegen eine ganze Menge an Zivilisationskrankheiten.

Bei der nächsten Tafel des Besinnungsweges wartet eine Ruhebank auf uns: «Nimm Dir Zeit, um glücklich zu sein! Zeit ist keine Autobahn zwischen Wiege und Grab, sondern ein Platz zum Parken in der Sonne.»

Weisse Schirmchen gleiten vom Wind getragen durch die Luft – man könnte sie für die ersten Schneeflocken halten. Doch in ihnen ist Leben angelegt. Irgendwo werden sie landen und im Bergfrühling ein neues Weideröschen zur Entfaltung bringen. Das Leben ist doch einfach ein Wunder! Hier oben scheint es noch in Ordnung zu sein. Ausser, dass der Langgletscher wegzuschmelzen droht – nein, daran will ich jetzt nicht denken.

Nebel umhüllt die Bergspitzen. Nur noch wenige Schmetterlinge sind zu sehen. Die Schwalben sind bereits weggezogen. Die gesamte Natur ahnt ihren Winterschlaf voraus, während sich die Murmeltierfamilie da drüben am Berg einen Fettwanst zulegt. Gleich legen sie sich schlafen. Ich wünschte, auch die Menschheitsfamilie würde sich in den Winterschlaf kuscheln. Sich zurückziehen. Dann wäre Ruhe in der Welt. Stille. Besinnung. Frieden.

Ob die Menschheit sich und die Natur gesundfasten, zur Besinnung kommen könnte? Ob sie dann erkennt, von welchem Wunder sie umgeben ist – was die Welt von innen her zusammenhält? Ob sie so die Weisheit erlangt, klug zwischen dem Heilsamen und dem Toxischen zu unterscheiden?

Vielleicht ist diese die Frage aller Fragen: Sind wir von ausbeuterischen Eigeninteressen getriebene «Krone der Schöpfung» oder doch «gute Hirtinnen und Hirten», die für das grosse Ganze Sorge tragen? 

Und ich selber? Bärlauch und  Herbstzeitlose? Beide sind in mir an-gelegt. Wahrscheinlich gilt es immer wieder aufs Neue, weise zu wählen.

Text: Tatjana Disteli