Religionen verbinden und spalten Gesellschaften

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Religionen verbinden und spalten Gesellschaften

Sind Religionen friedensstiftend oder kriegstreibend? Beides, sagt Johanna Rahner. Die Theologin spricht von der Tendenz, sich abzugrenzen, und der Gefahr, sich vereinnahmen zu lassen.

Ist Frieden trotz oder wegen Religionen möglich?

Johanna Rahner: Beides! Religionen tragen sowohl verbindende als auch spaltende Tendenzen in sich. Einerseits schafft Religion eine starke Identitätsbindung und grenzt das Ich von den anderen ab. Gleichzeitig verpflichtet Religion moralisch zu Offenheit, Inklusion und Zuwendung gegenüber allen. Diese widersprüchliche Dynamik steckt in allen Religionen.

Wann wirkt Religion kriegstreibend?

Wenn ein Machtanspruch über die Gottesliebe gestellt wird und diese aushebelt, führt das unweigerlich zu Konflikten. Sieht man sich moralisch überlegen, gilt das Gleichheitsideal nicht mehr. Anderen wird ihre Würde abgesprochen, sie werden herabgesetzt. Dieses sogenannte «Othering» macht Religionen aggressiv und destruktiv.

So kommt es dann zu Aussagen wie «Krieg gibt es bloss wegen -dieser Scheiss-Religion», wie sie im Film «Belfast» gemacht werden, der über den langjährigen Konflikt in Nordirland -erzählt.

Ja. Unsere Nationalität, die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe wird von aussen an uns herangetragen. Bei der Religion jedoch geht es vielmehr um eine «innere Identität», um unsere intime Bindung zur Transzendenz. 

Das macht Religion leicht instrumentalisierbar und höchst manipulativ. Sie lässt sich als Unterscheidungsmerkmal und als Exklusionsmarke missbrauchen. Selbst wenn ein Krieg nicht aufgrund von Religion ausgelöst wurde, wird er häufig -religiös überlagert. 

In Nordirland besserte sich die Situation, als sich beide Seiten einander annäherten und merkten, dass sie religiös -ähnlich, aber politisch unterschiedlich ticken.

Welchen Stellenwert hat Frieden in den Religionen?

Alle Weltreligionen kennen eine Heilsvorstellung, in der das friedliche Zusammenleben zentral ist. Ihnen sind grundlegende Werte und Moralvorstellungen gemeinsam. Die «Goldene Regel», also die ethische Grundregel, nach der man sich seinen Mitmenschen gegenüber so verhalten soll, wie man selbst behandelt werden möchte, findet sich in allen religiösen Traditionen.

Könnte mehr interreligiöses Bewusstsein Krieg vermeiden?

Ja. Nehmen wir als Beispiel die katholische Kirche: Sie bewertet seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 nichtchristliche Religionen positiv, betont die gemeinsame religiöse Würde und nimmt konkrete soziale, wirtschaftliche, ökologische und politische Fragen der Welt auf. Damit setzt sie die «Goldene Regel» quasi als Massstab – als ethische Grundlage für Gerechtigkeit und militärischen Frieden.

Was können Religionen zum Frieden beitragen?

Religion ist nicht exklusiv. Das heisst, Gott steht zu uns allen, sowohl als Individuen als auch als Gemeinschaft. Diese sogenannte Universalbeziehung Gottes muss an erster Stelle stehen. Religionen können den Frieden durch ihr Regulierungspotenzial fördern. Ebenso bieten sie eine ethische Grundlage für alle Bevölkerungsschichten. Religionen sind verpflichtet, Verstrickungen mit dem Säkularen und Politischen zu vermeiden. Sie sollten aufgeklärt, achtsam und sensibel hinschauen, um nicht instrumentalisiert zu werden, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Dazu ist eine grosse Portion Widerstandskraft nötig.

Wie setzen sich Religionen aktiv für den Frieden ein?

Frieden unter den Religionen und in der Welt ist ein Ideal. Es ist aber auch eine Verpflichtung, daran zu arbeiten. Immer wieder versuchen Religionsführer, aktiv Frieden zu schaffen. Der Dalai Lama etwa erreicht die Menschen mit seinen Friedensbotschaften. Auch die -diplomatische Vermittlung des Papstes, zum Beispiel die von Johannes XXIII. während des Kalten Krieges, wurde und wird international anerkannt. Doch das funktioniert nicht immer.

Wann zum Beispiel nicht?

Wenn es Abhängigkeiten zwischen Staat und Religion gibt. In der -Nazizeit beispielsweise spaltete sich die evangelische Kirche in Deutschland in die «Deutschen Christen», die Hitler zujubelten, und die «Bekennende Kirche», die in den Widerstand ging. Aktuell im Krieg Russlands gegen die -Ukraine unterstützt Patriarch -Kyrill I., der Vorsteher der russisch-orthodoxen Kirche, nationale Interessen. Doch auch bei den Russisch-Orthodoxen gibt es Initiativen, die sich nicht mit der nationalen Ideologie der russischen Welt identifizieren und theologische Gründe dagegen anbringen. 

Text: Anouk Hiedl/Marie-Christine Andres, zVisite-Redaktion