Hauptgewinner sind die radikalen Kräfte

Bericht aus Jerusalem

Hauptgewinner sind die radikalen Kräfte

Israel hat sein Parlament gewählt, zum fünften Mal in weniger als vier Jahren. 

Ein Blick zurück: Im April 2019 war das Ergebnis der Parlamentswahl so knapp, dass keine Regierungsbildung gelang. Dies wiederholte sich bei der Wahl im September 2019, im März 2020 musste erneut gewählt werden. Das erneute Patt der dritten Wahl wurde durch eine Koalitionsvereinbarung gebrochen: mit der Rotation im Ministerpräsidentenamt zwischen der Likud von Benjamin «Bibi» Netanjahu und dem blau-weissen Bündnis von Benni Gantz. Schon im Dezember 2020 zerbrach diese Regierung am Streit über den Staatshaushalt. 

Wahl Nummer vier innerhalb von zwei Jahren brachte die «Regierung des Wandels», die unwahrscheinliche Koalition aus acht Parteien, die kein Analyst im Vorfeld für möglich gehalten hätte. Die Zweckehe von Rechten, Demokraten, islamischen und zentristischen Parteien einte der kleinste gemeinsame Nenner: «Alles, nur nicht Bibi» – und hielt mit gut einem Jahr länger als prognostiziert. Am Ende waren die ideologischen Differenzen zu gross. Resultat: vorgezogene Neuwahlen.

Wieder einmal überraschten die Wähler. Sahen alle Umfragen ein Patt vor, ist das Ergebnis deutlich schmerzlich für jene, die eine Rückkehr des Oppositionsführers Netanjahu als Regierungschef um jeden Preis verhindern wollten. 64 der 120 Knesset-Sitze vereint das rechte Lager auf sich, eine komfortable Mehrheit.

Mehr als unkomfortabel ist der Wahlausgang in den Augen jener, die sich ein liberales, demokratisches Israel und möglicherweise eine Lösung des Konflikts mit den palästinensischen Nachbarn wünschen, denn die Hauptgewinner des 1. November 2022 sind die radikalen Kräfte. Mit 14 Mandaten für die Union aus Otzma Jehudit (dt. jüdische Stärke), religiösen Zionisten und die homophobe Noam zieht ein nationalreligiös-rechtsradikales Bündnis als drittstärkste Kraft ins Parlament – zweitstärkste im rechten Lager nach Likud.

Ihre Galionsfiguren sind mit Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir zwei überzeugte Siedler, letzterer mehrfach für Delikte wie rassistischer Hassrede oder Unterstützung einer Terrororganisation verurteilt. Israelische Souveränität in den besetzten palästinensischen Gebieten oder auf dem Tempelberg/Haram al-Scharif ist eine der schärfsten Forderungen der Union. 

Dass Netanjahu für sein Comeback auf sie angewiesen ist, wissen Ben-Gvir und Smotrich. Entsprechend selbstbewusst gehen sie in die Verhandlungen. In ersten Gesprächen meldete Smotrich Interesse am Finanzministerium an. Ben-Gvir doppelte bei seinem vor der Wahl geäusserten Anspruch auf das Ministerium für öffentliche Sicherheit nach. Dessen rechtliche Befugnisse sollen erweitert sowie seiner Partei zwei weitere Ministerien zugeteilt werden.

Besonders Ben-Gvir macht aus seinen antiarabischen Ansichten keinen Hehl. Araber, die sich nicht «israelloyal» verhalten, will er ausweisen, gegen palästinensische Steinewerfer mit scharfer Munition vorgehen – eine Forderung, die er vor der Wahl bei einer Demonstration in Jerusalem mit gezückter Pistole unterstrich. Bündnispartner Smotrich macht sich für eine radikale und weitreichende Reform des Justizwesens stark. Wird sie umgesetzt, würden richterliche Befugnisse drastisch eingeschränkt, die Macht der Knesset gegenüber der Judikative erheblich ausgeweitet.

Erstmals in der Geschichte Israels und Netanjahus wird die Bildung einer vollständig aus rechten Parteien bestehenden Regierung ohne Beteiligung liberaler Kräfte möglich sein. Die Vorgänger-«Regierung des Wandels» ist gescheitert. Der Wandel, der Israel jetzt bevorsteht, könnte weitaus weitreichender sein.

Text: Andrea Krogmann