Flügel trotz Krieg

Reportage

Flügel trotz Krieg

Hoffnungslos erstarren – oder etwas tun: Die beim Sammeln von Hilfsgütern für die Ukraine und in der Flüchtlingsschule «Kryla» – zu Deutsch «Flügel» –engagierten Menschen haben sich für das Zweite entschieden.

Samstagmorgen im Pfarreizentrum St. Franziskus Wollishofen: Olena Dorofieieva steht in einem der Unterrichtszimmer an der Wandtafel und schreibt in kyrillischer Schrift Begriffe auf. Die acht Zweitklässler nennen auf Ukrainisch das gesuchte Gegenteil. «Dazwischen gibt es Gymnastikübungen», erklärt die ehrenamtliche Lehrerin. «Damit die Kinder nicht müde werden.» 

Im nächsten Klassenzimmer schauen sich die ganz Kleinen in der Mathematikstunde ein Video an. Ein Krokodil öffnet weit sein Maul, ein Mädchen erschrickt kurz, hält sich die Hand vor den Mund und kichert dann. Das Krokodil-Maul soll den Kindern helfen, sich das Zeichen für «kleiner als» zu merken. 

Bei den Jugendlichen bietet sich der 12-jährige Daniel als Übersetzer an. Er lebt bereits fünf Jahre in der Schweiz und will jetzt sein Ukrainisch verbessern. «Wie wichtig die Muttersprache ist, habe ich gemerkt, als der Krieg begann», sagt er. Sandra ergänzt auf Englisch: «Hier ist eine schöne Atmosphäre. Wir sind wie eine gros-se Familie.» Im heutigen Geschichtsunterricht geht es um Wolodimir den Grossen. Er war um das Jahr 1000 Grossfürst von Kiew und hat die Christianisierung der Kiewer Rus initiiert. Lehrerin Maryna Coropatska sagt: «Ich mache das aus Liebe zur Sprache und zur Geschichte der Ukraine, und aus Liebe zu den Kindern.» Sie hat Tränen in den Augen. 


Sammeln, sortieren, lagern, transportieren ...

Am anderen Ende der Stadt Zürich, vor den Garagen der Pfarrei St. Martin in Zürich-Fluntern, packt Katarzyna Lanfranconi sorgfältig eine gespendete Kiste aus und prüft zusammen mit Asia Kiraga, ob die Sachen sauber, ganz und gut zum Weitergeben sind. Laufend fahren Autos auf den Platz, wo heute eine doppelte Sammelaktion stattfindet: für die Caritas, wie jedes Jahr, und für die Ukraine. «Die Caritas-Kleidersammlung – meist für Rumänien – ist fester Bestandteil unseres Pfarreilebens», erklärt Kirchgemeindepräsidentin Eva Stoffel. «Bei der heutigen Sammlung geben wir die Wintersachen direkt an die ‹Ukraine Support Group› weiter», sagt sie. «Das wird dort jetzt dringender gebraucht», meint Andrea Weisser vom Pfarreirat. Trotzdem kommt noch genug auch für die Caritas zusammen, denn «Not gibt es überall auf der Welt». 

Kistenweise kommen Hilfsgüter für die Ukraine in St. Martin an. (Foto: Manuela Matt)

Die «Ukraine Support Group» ist auf Initiative von Gregory und Paulina Zürcher entstanden. Paulina ist in der Ukraine geboren und in Polen aufgewachsen, heute wohnt sie mit ihrem Mann in Zürich. Gleich nach Ausbruch des Krieges haben sie erste Hilfsgüter in die polnischen Städte Przemyśl und Medyka nahe der ukrainischen Grenze geschickt, um die dort eintreffenden Flüchtlinge zu unterstüzen. Bald haben sich ihre Bekannten Karol Żurawski und Katarzyna Lanfranconi, zusammen mit ihren ganzen Familien, angeschlossen. «Meine erste Aktion war in Höngg, wo ich wohne», erzählt Lanfranconi. «Bei der katholischen und reformierten Kirche haben wir an je einem Wochenende gesammelt.» Das Ukraine-Büro von Katholisch Stadt Zürich organisierte darauf mit weiteren Stadtzürcher Pfarreien Sammeltermine und koordinierte die Kommunikation. Die Kirchgemeinden stellen die Infrastruktur zur Verfügung, die «Ukraine-Support-Group» regelt alles andere: «Wir sortieren, lagern alles in unseren Kellern und Bastelräumen und organisieren den Transport in die Ukraine», erzählt Lanfranconi. 

Karol Żurawski trägt eine grosse Kiste aus einem Auto. «Wir fahren praktisch jede Woche an die ukrainische Grenze, wo unsere Freunde die Hilfsgüter übernehmen und mit kleinen privaten Autos bis an die Front fahren», erzählt er. «Lastwagen werden angegriffen, Hilfswerke kommen nicht ins Kriegsgebiet. Unsere Freunde fahren auf eigenes Risiko. Wir können schnell reagieren.» Seine ganze Freizeit verbringt er mit dem Organisieren der Fahrten. Das macht er nun schon ein halbes Jahr, aber er strotzt immer noch vor Energie: «Dieses Engagement ist mir ein Herzensanliegen». Katarzyna Lanfranconi ergänzt: «In so einer Situation kann man vor Angst erstarren. Oder man kann etwas tun. Solche Tage wie heute sind super, die Menschen hier sind toll, es tut gut, zu sehen, wie engagiert alle sind.»


«Wichtig ist, etwas zu tun»

Zurück in St. Franziskus. Es ist Pause, die Kinder wechseln die Zimmer für die neue Lektion, die wartenden Eltern trinken Kaffee und plaudern. Iryna Atamas, Initiantin der Schule «Kryla», gibt hier Auskunft, ermuntert dort die Lehrerinnen, schaut, dass alles klappt. Die Ukrainerin lebt schon lange in der Schweiz. Auch sie hat zusammen mit anderen Ukrainern bereits am zweiten Tag nach Kriegsausbruch Hilfsgüter gesammelt. Aus dieser Initiative ist die Organisation «Zürich hilft der Ukraine» entstanden. Durch Kontakte zur Pfarrei St. Franziskus hat sie angeregt, dass in den Pfarreiräumlichkeiten drei Flüchtlingsfamilien untergebracht wurden. Damit die fünf Kinder dieser Familien sich nicht langweilten, hat sie sofort eine Spielgruppe organisiert. Daraus ist mit der Zeit die ukrainische Schule entstanden. 

In der ukrainischen Schule in St. Franziskus üben die Kinder ihre Muttersprache und erleben dabei Gemeinschaft und Geborgenheit. (Foto: Manuela Matt)

Am Montag gibt es Deutsch-Kurse für Erwachsene, am Mittwoch Spiel- und Kunststunden, am Samstag ukrainische Schule für Kinder. «Damit sie, wenn sie zurückkehren, wieder einsteigen können und helfen, das Land aufzubauen.» Die Montags- und Mittwochs-Lektionen finden inzwischen im Hofgebäude der Stiftung St. Peter und Paul statt. Neu gibt es am Samstag einen ukrainischen Chor, der auch Schweizerinnen und Schweizern offensteht. «Der Krieg ist bei weitem noch nicht vorbei», sagt Iryna Atamas. Sie habe erfahren, wie sich die Welt jeden Moment grundlegend verändern könne. «Ich unterscheide jetzt Wichtiges von Unwichtigem und ärgere mich nicht mehr über Kleinigkeiten», sagt sie. Wichtig sei, etwas zu tun. Das Wenige, was jede Person an ihrem Platz tun könne. 

Text: Beatrix Ledergerber