Nah bei Dir, hier und jetzt

Kaleidoskop: Weihnachten

Nah bei Dir, hier und jetzt

Joseph Maria Bonnemain, Bischof von Chur, erlebt die Kraft von Weihnachten oft gerade dann, wenn er seine Pläne aufgibt.

Die Tage werden kürzer, die Nächte kälter. Unsere Herzen sehnen sich nach Weihnachten. Wenn ich jeweils die Weihnachtsgottesdienste vorbereite, die Predigten schreibe, versuche ich, die schönen Gefühle und Stimmungen von diesem Fest zu vermitteln. Wenn ich dann allerdings meinen Blick in die Welt richte und realisiere, unter wie vielen Sorgen die Menschen leiden, fühle ich mich etwas hilflos. Ein beklemmendes Gefühl von Unvermögen macht sich breit. Wie schaffen wir es heute, die gnadenvolle Botschaft des Kindes in der Krippe der Welt zu verkünden? Wie wird Weihnachten im Hier und Jetzt real?

Das Leben ruft mich dann immer wieder zurück in die Realität. Wie zum Beispiel einmal, als ich zur Weihnachtsmette fuhr, in der Tasche meine Predigt. An der Botschaft hatte ich gefeilt, um Worte gerungen. Jetzt war es so weit, Heiligabend. Die Welt war still geworden, ich schaltete das Autoradio an. Sie spielten ein italienisches Lied: «Per ogni lacrima nasce una stella», tönte es – für jede Träne wird ein Stern geboren. Dieser Satz, die Melodie wirkten in mir wie eine Offenbarung. Ich ergänzte in meinem Innersten die Passage des Liedes mit: «E per tutte le lacrime della storia nasce Gesù» – und für alle Tränen der Geschichte wird Jesus geboren. Diese kraftvolle Einladung, die Tränen der Menschen abzuwischen, nahm ich an. Die vorbereitete Predigt blieb im Auto liegen. Ich spürte ganz direkt, was Weihnachten bedeutet, jetzt und hier: Wenn wir für die Menschen da sind, ihre Tränen trocknen, wird Weihnachten auch heute gegenwärtig.

Jahre später war ich am Weihnachtstag frühmorgens unterwegs. Ich feierte die Eucharistie im Spital Limmattal. Bevor ich ankam, sah ich in einem freien Feld ganz in der Nähe ein Zirkuszelt. Tags zuvor ging die Saison zu Ende. Die Zirkusleute packten ihre Sachen zusammen. Ich sah sie und stellte mir vor: Geh zu ihnen hin, wie damals die Engel zu den Hirten in Betlehem. Bitte sie, hierzubleiben und für das Neugeborene zu spielen. Sie sollen die grosse Freude verkünden: Jesus Christus, der Sohn Gottes ist geboren – für uns! «Bleibt hier und spielt eure beste Vorstellung», sagte ich ihnen in meiner Vorstellung. «Das Neugeborene kommt. Ihm gebührt die schönste Aufführung.» Die Clowns sollten es zum Lachen bringen. Die Trapezkünstler sollten seine Augen funkeln lassen. Die Jongleure zur Freude des Kindes ihre raffiniertesten Kunststücke zeigen. – Wiederum liess ich meine Predigt beiseite und erzählte im Spital von meiner Eingebung. Zum zweiten Mal in meinem Leben spürte ich Weihnachten ganz nah.

Weihnachten wird wahr, hier und jetzt – immer dann, wenn wir anderen Freude bereiten, ihre Herzen erhellen, sie unterhalten, damit sie einen Moment lang ihre Sorgen vergessen. Wenn wir uns zum Narren machen, damit andere lachen. Dann ist Weihnachten, und die Welt wird etwas heller, fröhlicher und friedvoller. Dann wird Weihnachten gegenwärtig – jetzt und hier.

Text: Joseph Maria Bonnemain, Bischof im Bistum Chur