Über uns die Sterne

Schwerpunkt

Über uns die Sterne

Sie sind die Exoten in der Weihnachtsgeschichte: Sterndeuter aus dem Osten. Für den Physiker Sebastián Guerrero verkörpern sie beispielhaft den Dialog zwischen Glaube und Wissenschaft.

Seit meiner Kindheit liebe ich die Weihnachtsgeschichte. Ich verbinde sie mit einigen meiner frühesten Erinnerungen. Wahrscheinlich deswegen fühle ich mich beim Lesen jedes Mal in meine Kindheit versetzt.

Mich hat bereits als Kind vor allem ein Motiv fasziniert: Die Sterndeuter aus dem Osten. Der Erzählung nach wurden sie von einem Stern nach Bethlehem und bis zur Krippe geführt und haben dort Jesus mit Gold, Weihrauch und Myrrhe beschenkt. Auf Spanisch kennt man diese Weisen aus dem Morgenland unter der Bezeichnung «Reyes Magos», was sich wörtlich in «Zauberkönige» übersetzen lässt. Sie haben für mich die Weihnachtsgeschichte in eine mystische und geheimnisvoll magische Dimension erweitert.

In meinem Heimatland Mexiko gibt es eine tief in der Gesellschaft verankerte Tradition, welche sich um diese Figuren dreht: Am Dreikönigstag werden alle Kinder von den drei Magiern besucht. Sie erfüllen Wünsche und bringen – so wie damals dem Jesuskind – Geschenke mit.

Jeweils in der Nacht vom 5. Januar auf den 6. Januar treten die Menschen in den Nachthimmel hinaus und suchen nach einer Konstellation mit drei hellen Sternen, die sich nacheinander in der Mitte des Orion-Sternbilds aufreihen. Diese sogenannten Gürtelsterne sind in den Januarnächten nahe dem östlichen Himmelsäquator besonders gut sichtbar. In Mexiko werden sie auch das Sternbild der drei Könige genannt.

Ich habe mich jedes Mal auf diesen Moment gefreut und denke häufig an das Staunen über den Nachthimmel, das mich jeweils gepackt hat. Es war einer der ersten Momente, in denen sich meine Neugierde auf die Natur und das, was «die Welt im Innersten zusammenhält» gezeigt hat. Ich kann es mir heute noch lebhaft vorstellen, wie ich in nahezu mondloser Nacht unter freiem Himmel stand, im Hintergrund die laute Megacity Mexiko-Stadt und über mir die Sterne.

Die Gesetze des Himmels

Woher kommt dieses Funkeln am Himmelsgewölbe? Wieso scheinen sich manche Sterne zu bewegen und andere fix an einer Stelle zu stehen? Hat das Licht eine Farbe? – Es kann sein, dass in einer solchen Stunde der Physiker in mir geweckt wurde, denn ich war vom Spektakel der Natur zutiefst berührt, wollte es aber nicht nur bewundern, sondern vor allem verstehen und dabei etwas über die Geheimnisse dieser Welt erfahren. Ich bin dann zwar Festkörper- und nicht Astrophysiker geworden, aber der Sternhimmel war mein erster Zugang zur Physik und dazu, immer wieder meine Fragen nach dem Ursprung der Schöpfung zu stellen.

Es hat nicht lange gedauert, bis ich als Kind ein Buch über Astronomie in den Händen hielt. Darin stand vieles, was für uns heute selbstverständlich ist, wie zum Beispiel, dass die Erde eine Sphäre ist, die sich sowohl um die eigene Achse als auch um die Sonne in der Mitte dieses Systems dreht.

Ich habe erfahren, dass die hellen Objekte am Himmel Planeten und andere weit entfernte Sterne sind. Einige davon scheinen sich zu bewegen, weil sie sich nahe der Erde befinden, wenigstens im Vergleich zu denen, die an der Stelle zu verharren scheinen.

Mit diesem Wissen begann man, den Nachthimmel systematisch zu erkunden. Man kann damit nämlich die Distanzen zu einem beliebigen Himmelskörper bestimmen, denn je näher ein Stern ist, desto stärker scheint er sich zu bewegen. Deswegen weiss man zum Beispiel, dass Proxima Centauri, nächstgelegener Stern ausserhalb des Sonnensystems, ungefähr vier Lichtjahre entfernt ist. Vier Lichtjahre sind 40 Billionen Kilometer oder 300 000 Mal die Entfernung zwischen Sonne und Erde! Es war unglaublich spannend und schön, mir all diese Fragen zu stellen und die Antworten direkt aus meinem Buch ablesen zu können.

Sterne berechnen … Sterne deuten

Es war allerdings nicht schon immer so «kinderleicht», sich dieses Wissen anzueignen. Jahrtausendelang gab es dafür keine Bücher und schon gar kein Internet. Wie wurden diese Zusammenhänge erkannt, als man noch allein auf die Beobachtung des Sternenhimmels angewiesen war? Wer waren diese Sterndeuter, diese Magier, die Wissen aus der Beobachtung des Nachthimmels ableiten und so einem Stern bis nach Bethlehem folgen konnten?

Im Matthäusevangelium werden die Sterndeuter altgriechisch «magoi» genannt. Die Bedeutung ist vielschichtig. Das Wort kommt vom iranisch-medischen Ausdruck «magus» und bezeichnet eine Priesterkaste, die während der hellenistisch-römischen Periode als weise Menschen verehrt wurden. Die Weihnachtsgeschichte ist die einzige Stelle in den Evangelien, in der eine positive Einstellung gegenüber der Astralmystik sichtbar wird. In der Astralmystik werden physika-lische Phänomene als Heilszeichen interpretiert.

Weshalb tauchen diese Sterndeuter ausgerechnet in der Weihnachtsgeschichte auf? Eine gängige Interpretation vermutet darin die Offenheit der Botschaft Christi gegenüber der ganzen Menschheit, gegenüber allen Traditionen. Ich verstehe die Sterndeuter aber auch als ein 
Aufeinandertreffen von Religion und Naturstudium. Ein frühes Beispiel, wie sich Glaube und Wissenschaft zu einer Einheit fügen. Eine solche Sicht setzt voraus, dass wir Glaube und Naturwissenschaft nicht als entgegengesetzte Kontrahenten verstehen.

Auch ausserhalb der Bibel finden wir immer wieder solche Berührungspunkte zwischen der Wissenschaft – insbesondere der Astronomie – und dem Glauben, denn seit Urzeiten war der Mensch von Himmelsphänomenen fasziniert. Diese haben Bereiche seines praktischen Lebens beeinflusst, dienten ihm als Orientierungshilfe in Raum und Zeit. Eine systematische Erkundung und Beschreibung des Himmels waren auch vorteilhaft, um mit den beobachteten Regelmässigkeiten des Himmels einen Kalender zu gestalten. Dieser diente nicht zuletzt der Organisation einer Weltkirche. Die kalendarische Festsetzung der Hochfeste förderte die weltweite Ausbreitung des Christentums. Der Lauf der Gestirne wurde zum globalen Taktgeber.

Modelle machen Weltbilder

Dafür brauchte man allerdings Methoden, die in der Lage waren, genaue und wiederholbare Voraussagen über die Lage der Gestirne im Himmel zu treffen. Eines der ersten Modelle stammt von Ptolemäus. Im 2. Jahrhundert nach Christus stellte er in seinem Weltbild die Erde in den Mittelpunkt des Universums. Dies wurde von der christlichen Kirche übernommen, unter anderem weil es so leicht mit dem Bild aus der Bibel vereinbar war.

Das Modell war zudem genau genug, um damit die Positionen mehrerer Himmelskörper für einen bestimmten Zeitpunkt zu bestimmen. Es benötigte allerdings ziemlich komplizierte und nicht unbedingt realistische Annahmen, um überhaupt Voraussagen treffen zu können. Trotz seiner Schwächen war das ptolemäische Weltbild weit über die Kirche hinaus für lange Zeit akzeptiert.

Gleichzeitig gab es immer wieder Versuche, die Beobachtung des Himmels besser mit einer Theorie in Einklang zu bringen. Nikolaus Kopernikus (1473–1543) war eines der prominentesten Beispiele dafür. Er war Domherr zu Frauenburg in Polen und leitete eine Wende ein, mit der das bisher akzeptierte geozentrische Weltbild von Ptolemäus und damit auch die Kirche herausgefordert wurden. Kopernikus hat seine Theorie zunächst nicht unter seinem eigenen Namen veröffentlicht. Es wird vermutet, dass er Angst hatte, wegen seiner neuen Theorie verspottet zu werden.

Sein Werk «Über die Umlaufbahnen der Himmelssphären» beschreibt ein mathematisches und naturphilosophisches Modell, in dem sich die Planeten, inklusive der Erde, um die Sonne bewegen. Die Allgemeinheit der Theologen, sogar der Reformator Martin Luther, verwarfen dieses Modell und argumentierten mit scheinbaren Widersprüchen zu gewissen Bibelstellen.

Aber es gab auch Menschen in der Kirche, denen die Argumente und Rechnungen von 
Kopernikus einleuchteten und die sich dann wie er für das heliozentrische Weltbild aussprachen. Dazu gehörte Pierre Gassendi (1592–1655), ein französischer Priester, Theologe und Physiker, der unter anderem für seine Formulierung des Trägheitsprinzips bekannt ist. Mit seinen Ansichten stand er sehr häufig im Mittelpunkt von Diskussionen und Spaltungen innerhalb der Kirche. Seine Leistungen als Vermittler, aber auch als Wissenschaftler haben ihn zu einer wichtigen Gestalt der Kirchen- und Wissenschaftsgeschichte gemacht. Gassendi stand mit vielen prominenten Persönlichkeiten seiner Zeit in engem Kontakt, darunter auch Galileo Galilei.

Theologie und Physik

Johannes Kepler (1571–1630), der mit seiner Formulierung der nach ihm benannten Gesetze, ebenfalls einen Wendepunkt einleitete, ist ein weiteres faszinierendes Beispiel für die Verbindung von Astronomie und Glaube. Kepler versuchte häufig, seine Arbeiten direkt mit seinem Glauben in einen Kontext zu stellen. Als Beispiel dafür wird häufig die folgende Episode aus seinem Leben erzählt: An einem Dezember-morgen des Jahres 1603 soll Kepler aus seinem Fenster in Prag am Himmel ein eindrückliches Phänomen beobachtet haben. An diesem Tag fand eine sogenannte grosse Konjunktion statt. Das bedeutete, Jupiter und Saturn standen in einer Konstellation am Himmel, in der sie von der Erde aus als ein einziger heller Stern wahrgenommen wurden. Kepler rechnete nach und stellte fest, dass eine solche grosse Konjunktion auch im Jahr 7 vor Christus stattgefunden hatte. Ob damit der Stern von Bethlehem tatsächlich vom Symbol zu einem historischen Ereignis wird, ist an dieser Stelle nicht entscheidend. Entscheidend ist, wie Kepler seine Beobachtungen mit dem Evangelium verknüpft, und sein Wille, durch astronomische Beobachtungen und Berechnungen eine Brücke zwischen Glauben und Naturwissenschaft zu bauen.

Auf der Suche nach Gewissheit

Der Glaube führt selbstverständlich nicht von selbst zu naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Aber faszinierend ist es dennoch, wie viele Theologen im Laufe der Geschichte zum Teil fundamentale Beiträge zur Astronomie und zur Astrophysik geleistet haben, wissenschaftliche Erkenntnisse, die unser Verständnis von der Welt und dem Universum bis heute massiv prägen.

Das lief, wie besonders der erbitterte Streit um Galileo Galilei zeigt, nicht immer harmonisch ab. Es kam oft sogar zum Kampf zwischen Kirchenhierarchie und Wissenschaftlern. Und bis heute bleibt es ein spannungsvolles, aber auch produktives Verhältnis. Naturwissenschaft wie Glaube sind auf ihre unterschiedliche Weise mit der Suche nach Erfüllung eines Grundbedürfnisses beschäftigt, dem Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit. Der Suche nach Gewissheit.

Paradigmenwechsel und Weltbildkorrekturen verursachen Unruhe, sind aber nötige Bestandteile einer dynamischen Gesellschaft und auch einer dynamischen Kirche. Wichtig ist 
jedoch, dass die Unruhe zu einem Lerneffekt führt. Dafür muss man unvoreingenommen ins Gespräch kommen – immer wieder aufs Neue. Wissenschaft und Glaube können und sollten zusammen existieren. Genau dafür stehen die Sterndeuter in der Weihnachtsgeschichte.

Noch heute, wenn ich am Sternenhimmel die drei Sterne am Gürtel des Orions erkenne, muss ich an meine Kindheit und an diese besondere Verbindung zwischen Wissenschaft und Glaube denken. Es bleibt eine schöne Erinnerung, mit einem festen Bezug zu meinem Glauben und meinen Kindheitsträumen. Gleichzeitig empfinde ich eine zeitlose Einladung, die Schönheit und Komplexität des Universums jeden Tag aufs Neue zu erkunden. Die Hoffnung im Glauben und die Erkenntnis in der Wissenschaft sind beides untrennbare Bestandteile meiner Person.

Text: Sebastián Guerrero