Steht ein Denkmal – und niemand sieht hin

Neujahrsgespräch

Steht ein Denkmal – und niemand sieht hin

Der Historiker Georg Kreis über eine Kultur, an der wir meist achtlos vorübergehen. Die aber zu sprechen beginnt, wenn wir uns auf ihre Geschichte einlassen.

Georg Kreis hat als Historiker viele bedeutende Studien über die neuere Schweizer Geschichte verfasst. Darunter die erste umfassende Monografie zur Denkmaltopographie der Schweiz. Kreis blickt mit nüchternem Blick auf den Gegenstand seiner Untersuchungen. Und nüchtern ist auch das Fazit seiner Bestandesaufnahme der Denkmäler der Stadt Zürich, die er im Auftrag der Stadtregierung erstellt hat. Sie ist im Frühjahr 2022 erschienen und soll eine Grundlage für die zukünftige Denkmalstrategie bieten. Keines der Denkmäler sei grundsätzlich heikel, lautete das unspektakuläre Fazit. Diskussionswürdig ist unser Umgang mit Denkmälern dennoch, wie das folgende Gespräch zeigt, das wir mit Georg Kreis an «seiner» Universität in Basel geführt haben.

Herr Kreis, was ist ein Denkmal?
Ein Denkmal muss mindestens einen Sockel haben, wäre früher eine Antwort gewesen. Das trifft aber heute nicht mehr zu. Auch die Figürlichkeit ist kein zwingendes Merkmal mehr.  Abstrakt formuliert ist das Denkmal ein Wahrzeichen für ein Bekenntnis zu einer Idee, zu einem Wert. Dieses Bekenntnis wird materialisiert und damit öffentlich wahrgenommen.

Wie wird diese Werthaltung eines Denkmals vermittelt?
Es ist ja nicht ganz falsch, wenn man behauptet, Denkmäler seien einfach mal tot, nur Materie mit etwas Form. Aber Denkmäler können gelesen werden, und dann strahlen sie etwas aus. Das hängt allerdings von den Kenntnissen der Betrachter ab. Ich mag einen Typus von Denkmal-Abbildungen, der in alten Publikationen auftritt. Darauf ist ein Vater zu sehen, der mit einer Geste in Richtung eines Denkmals zeigt, mit seinem Sohn an der Hand. Das deutet einen Wissenstransfer in die nächste Generation an, damit diese begreift, was das Denkmal für eine Bedeutung hat.

Ein Denkmal ist also erklärungsbedürftig?
Es entsteht zu einer bestimmten Zeit und will verständlicherweise über diese Zeit hinaus das verewigen, was im Moment seiner Errichtung als wichtig erachtet wurde. Das funktioniert allerdings höchst selten. Meistens wird es einfach vergessen. Selten wird es zum Stein des Anstosses. Und dann gibt es ein paar ganz wenige Denkmäler, die universelle Bedeutung erhalten wie beispielsweise die New Yorker Freiheitsstatue.

Und das «durchschnittliche» Denkmal?
Ich zitiere immer wieder Robert Musil: «Es gibt nichts Unsichtbareres als Denkmäler.» Das ist ein Paradox, weil Denkmäler ja gerade herausragen und gesehen werden wollen. Aber wenn ihre Stifter der Vergangenheit angehören, dann gehören auch die Denkmäler der Vergangenheit an und werden gar nicht mehr wirklich wahr-genommen. Manchmal flammen Debatten auf, aber die Normalität ist doch die, dass Denkmäler übersehen werden.

In Zürich wird momentan die Benennung der Rudolf-Brun-Brücke diskutiert.
Ein Strassenschild lässt sich natürlich leichter auswechseln als ein Denkmal. Dieses müsste man entsorgen. Das Eliminieren von Vergangenheit halte ich als Historiker grundsätzlich für falsch. Die Auseinandersetzung damit ist jedoch notwendig. Sie ist Teil unserer lebendigen Gesellschaft.

Es geht also auch um unser Geschichtsbild?
In den Debatten um Denkmäler wird auch die ganz grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob es heute noch ein allgemeingültiges Geschichtsbild gibt. Dies wird verständlicherweise und zu Recht immer stärker in Frage gestellt. Durch die Aufwertung von Individuum und Gruppen-Identitäten verlangen diese auch vermehrt nach Geltung und ihrem sichtbaren Platz in der Gesellschaft. Das wirkt sich auch auf den Umgang mit Denkmälern aus.

Könnte man die Akzeptanz von Denkmälern steigern, wenn man darüber abstimmen könnte?
Früher wurden Denkmäler ausgeheckt. Ich benutze bewusst dieses Wort, weil die Idee zu einem Denkmal meist in einem Hinterzimmer von einer kleinen Gruppe von Männern entstand. Auch heute werden Denkmäler meist von einer kleinen Gruppe initiiert. Allerdings wird die Partizipation – nicht nur wenn es um Denkmäler geht – zunehmend höher gewichtet. Kürzlich hat die Schweizerische Akademie für Geisteswissenschaften dazu eine Studie veranlasst. Aber ich gebe zu bedenken: Ob das Denkmal nun von ein paar Menschen ausgeheckt oder partizipativ beschlossen wird, es bleibt immer stark vom Moment abhängig und wird bald wie jedes andere Denkmal übersehen werden.

Denkmal «Hans Küenzi» am HB Zürich

Am 27. September 2017 wurde beim neuen Aufgang Europaallee im Zürcher Hauptbahnhof das Denkmal für Hans Künzi (1924–2004) eröffnet. Künzi war Zürcher Regierungsrat und Nationalrat und gilt als «Vater der Zürcher S-Bahn».

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten Denkmäler Hochkonjunktur. Weshalb gerade in dieser Zeit?
Es fallen wahrscheinlich einige Dinge zusammen. Einerseits die Demokratisierung der Gesellschaft. Das Denkmal ist ja auch ein Massenmedium. Es ist ausgerichtet auf die öffentliche Wahrnehmung. Im aufblühenden Nationalismus kann man Denkmäler aber auch als Manifestation eines gesellschaftlichen Bewusstseins sehen. Ende des 19. Jahrhunderts beginnt der Bund Denkmäler zu subventionieren. Man will zeigen: Die Schweiz ist auch eine Kulturnation.

Man feiert im Denkmal Werte. Was will man damit bewirken?
Es geht zunächst um Anerkennung und Würdigung. Aber mindestens so sehr ist das Denkmal auch mit einem Appell zur Nachahmung verbunden. Zumindest sollten wir in die gleiche Richtung streben wie die gewürdigte Figur. Immer mit dem Wissen, dass wir deren Niveau nie erreichen können.

Für mich hat das Pestalozzi-Denkmal vor dem Globus eine solche Ausstrahlung, obwohl ich kein Pestalozzi-Verehrer bin.
Von manchen Denkmälern geht eine unbestimmte Klarheit aus. Es ist irgendwie eindeutig, wofür Pestalozzi steht, selbst wenn wir das nicht definieren können. Pestalozzi ist einfach Pestalozzi – und er steht für etwas Gutes. Stellen wir uns nun die bereits beschriebene Vermittlungsszene vor: Da steht ein Vater und erklärt seinem Sohn dieses Denkmal. Und dann kommt fünf Minuten später ein anderer Vater mit Sohn. Und dann noch ein Vater mit Sohn. Erzählen alle drei das Gleiche? Oder etwas je Unterschiedliches? Im Laufe der Zeit wird wahrscheinlich immer häufiger das Zweite zutreffen. Genau das macht Stärke und Schwäche des Denkmals aus: Dass es vieldeutig sein kann.

Was tun Sie, wenn Sie mit ihrem Enkel vor einem Denkmal stehen?
Ich erzähle einfach. Vor dem Winkelried-Denkmal beispielsweise eine in sich selbst ruhende Geschichte, wie sie ja historisch gar nicht stattgefunden hat. Wenn mein Zuhörer das Denkmal vor sich hat, kann ich besser erzählen, weil die Aufmerksamkeit eine andere ist. Ich habe in diesem Moment meist nicht das Bedürfnis, das zu dekonstruieren.

Sie haben erklärt, dass Denkmäler normalerweise von einer kleinen Gruppe initiiert werden.
Wenn ein Denkmal geplant und errichtet wird, gibt es eine Denkmal-Gemeinde. Sie weiss genau, wofür das Denkmal steht. Sie braucht das Denkmal, um das eigene Wissen und die eigene Werthaltung zu pflegen. Wenn das Denkmal dann steht, ist die erste Frage deshalb: Ist die Denkmal-Gemeinde damit zufrieden? In einer pluralistischen Gesellschaft wird es nicht möglich sein, Denkmäler zu errichten, die allen gefallen.

Denkmäler stehen aber auf öffentlichem Grund.
Man kann das als eine Form von Okkupation sehen. Die Denkmal-Gemeinde beansprucht einen Platz für ihr Gedenken. Damit verbunden ist die Erwartung, dass die Werte, für die das Denkmal steht, eine gewisse Allgemeingültigkeit haben. Das heisst aber nicht, dass es dann auch so funktioniert. Im 19. Jahrhundert dürfte das noch eher der Fall gewesen sein als heute.

Wenn Denkmäler ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben, könnte man sie dann nicht umwidmen oder ein neues Denkmal an ihren Platz stellen?
Eine Umwidmung von Strassen ist leichter zu machen als eine Umwidmung von Denkmälern. Die sind schon sehr viel stärker an bestimmte Inhalte gebunden. Und man kann nicht eine neue Gemeinde bedienen, ohne damit eine alte Gemeinde zu verletzen. Allgemeine Bekenntnisse sind da leichter abzugeben, als konkrete Entscheidungen zu fällen. Ich kann auf diese Frage deshalb auch nur eine allgemeine Antwort geben: Verhältnisse sind wandelbar. Die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft sind auch ein Appell an unsere Bereitschaft, gestaltende Zeitgenossenschaft zu betreiben. In der Hoffnung, dass dabei etwas Gutes herauskommt.

Was fasziniert Sie an Denkmälern?
Da erwischen Sie mich mit einer Frage, die ich nur schwer beantworten kann. Es geht um diese Mischung von Gegenständlichkeit und Abstraktion. Einerseits steht das Denkmal sehr materiell da, gleichzeitig hat es eine Bedeutung und Wirkung, die nicht unmittelbar sichtbar sind. Wer sich mit Denkmalkultur auseinandersetzt, der versteht die gesamte Kultur einer Epoche etwas besser.

Haben Denkmäler eine Zukunft?
Es wurde schon häufig das Ende der Denkmäler verkündet. Und dann werden doch immer wieder neue errichtet. Es scheint offenbar ein menschliches Bedürfnis zu sein, Denkmäler zu errichten.

Haben Sie ein Lieblingsdenkmal?
Spontan kommt mir keines in den Sinn. Da muss ich passen.

Buchtipp

Georg Kreis «Zeitzeichen für die Ewigkeit: 300 Jahre Schweizerische Denkmaltopografie»
540 Seiten. NZZ Libro 2008. ISBN 978-3038234173.

Text: Thomas Binotto