Lasst uns disputieren!

Editorial

Lasst uns disputieren!

Was mich provozieren kann, das liebe ich. Meine Mutter, die wieder einmal irgendetwas an mir feststellt (und damit den Nagel natürlich auf den Kopf trifft), provoziert mich beizeiten.

Kinder provozieren Eltern. Politische Debatten entfachen emotionales Feuer, weil es um Werte geht, und noch einmal mehr, wenn es um Werte geht, die einem persönlich stark am Herzen liegen.

Es gab Zeiten, da konnte man damit provozieren, eine Wurst zu essen, während Fastenzeit war. In der Bibel zu lesen, und zwar in der Muttersprache und selbstständig. Man ging in die Predigt, um sie zu stören – weil man wusste, das wird Aufmerksamkeit erregen. 500 Jahre ist das her, es war die Zeit der Reformation. Und jetzt, 2023, gibt es dazu ein Jubiläum, das mir besonders gefällt: Am 29. Januar jährt es sich zum 500. Mal, dass der Rat von Zürich eine Disputation einberufen hat.

Ich gebe zu, ich träume schon länger davon, dass es bei uns, mitten in Zürich oder anderswo, gerne auch mitten im Bistum Chur, einen Ort der öffentlichen Disputation gäbe. Heute sagen wir dem eher Dialog, diesem Prozess, sich auseinanderzusetzen, zu erörtern, auszutauschen. Im Wort «disputare» steckt aber auch das Kämpferische und die Absicht, Dinge zu klären. Auch das gehört unter Menschen dazu.

Am 29. Januar 1523 rief der Rat von Zürich also zum öffentlichen Streitgespräch zusammen. Zu viel Provokation lag in der Luft, zu viel Unruhe, ausgelöst durch zu viele berechtigte Fragen. Eine Disputation als offene Antwort. Es war das, so lässt sich nachlesen, eine völlig neue Form der Versammlung. Sie führte zunächst zur Spaltung, verhinderte aber zumindest für Zürich Zerstörung und manche Gewalt. Und sie ermöglichte Entwicklungen – zu einer Vielfalt, die zum Reichtum geworden ist.

Text: Veronika Jehle