Narrenschiff

Mein Überwachungsorgan

Grade habe ich mich mit einem schlechten Gewissen aus dem Haus geschlichen, weil sich in der Küche das schmutzige Geschirr stapelt.

«Stell dir vor», mahnt mein Überwachungsorgan, «was ein Besuch angesichts dieser Sauordnung Furchtbares von dir denken würde.»

Und schon bin ich mittendrin im Selbstfremdschämen, weil im Eingang seit Tagen ein Wäscheständer darauf wartet abgeräumt zu werden. Weil im Schlafzimmer das Duvet im Freistil daliegt. Weil im Bad Staub auf dem Badewannenrand klebt. Und weil zurück in der Küche der Grünabfall vom Fenstersims grüsst.

Da sind zwar keine Mitbewohnerin und kein Mitbewohner, die sich beklagen könnten. Niemand fährt mit ausgefahrenem Zeigefinger über meine Regale. Wenn mich jemand nicht besuchen mag, dann sicher weil meine Debattierlust abschreckend wirkt und nicht weil bei mir Chaos herrscht. Eher stehe ich bei meinen Besucherinnen und Besuchern im Ruf, ein obsessives Verhältnis zur Ordnung zu haben. Mein Überwachungsorgan ist hausgemacht, meine penetrant mahnende innere Stimme.

Sie verfolgt mich überall hin: Wenn ich ein Geschäft betrete und freundlich gefragt werde, ob ich Hilfe benötige, antworte ich verschreckt mit «Nein!». Weil ich Hemmungen habe, mich beraten zu lassen und dann doch nichts zu kaufen. So heftig, dass ich selbst ohne Beratung jenen Moment zum Abhauen nutze, in dem das Verkaufspersonal wegschaut. Ausgerechnet weil ich nix mitlaufen  lasse, ist es mir so peinlich. Und dann wieder phantasiere ich davon, für einen Ladendiebstahl eingebuchtet zu werden, den ich nicht begangen habe, nur weil ich mich so verdächtig zwischen den Regalen rumgemurkst habe.

Draussen unterwegs frage ich mich: Hat die Passantin mitgekriegt, was für ein kraftloses «Grüezi» ich gerade gehaucht habe? – Wie viele Menschen sind wohl peinlich berührt, wenn ich umkehren muss, weil ich in die falsche Richtung gelaufen bin? – Und was denkt sich die Welt wohl zu meinem knallgelben Ostfriesennerz?

Wieder läuft mein Überwachungsorgan auf Hochtouren und überhört beinahe, dass ich gerade einen Beatles-Song vor mich hinsumme. Wie vollpeinlich ist das denn! Die schlimmsten Alpträume meiner Kinder werden endlich doch noch wahr.

Es kommt vor, dass mein Überwachungsorgan aussetzt. Wenn ich gut drauf bin, erscheint mir meine Selbstkontrolle aberwitzig. «Das wäre mal eine Glosse wert», denke ich dann.  Wenn ich schlecht drauf bin, kommt für mich jede Therapie zu spät.

Was allerdings den lieben Gott als Überwachungsorgan angeht, da bin ich ganz sicher, dass er nicht alles sieht. Nicht, weil er das nicht könnte. Aber er hat einfach keine Lust, mich in meinen Anfällen von Gagaismus zu beobachten. Zu alltäglich. Zu langweilig. Und zu richten gibt's da selbst beim strengsten göttlichen Willen nichts.

Text: Thomas Binotto