Von den guten Fragen

Eine gute Frage

Von den guten Fragen

Ich sehe mich selbst mit meinem Grossvater am Tisch sitzen. Der 87-jährige Mann hat ein langes Leben hinter sich. 

Als Kind musste er fliehen, von einem Dorf nahe Bratislava in Richtung Wien. Mich bewegen meine Vorstellungen und Gedanken, was er wohl erlebt haben mag damals. Zugegebenermassen ist auch meine Neugierde gross. Das eine oder andere weiss ich schon, vieles andere versteckt sich noch im Dunkel. Also werde ich Fragen stellen. Fragen sind mein einziger Weg, mehr zu erfahren und nach und nach womöglich auch etwas mehr zu begreifen. Einfach ist das allerdings nicht. Wie frage ich? Wann frage ich? In welcher Haltung und Stimmung, vom Kopf her oder vom Herzen her? Steht es mir überhaupt zu, Fragen zu stellen? Möchte mein Grossvater gefragt werden? Was möchte ich eigentlich erfahren und was erwarte ich mir?

Manchmal scheint mir, als würde alles mit einer Frage beginnen. Als würde die Umwelt, die Menschen und Situationen, die Erlebnisse und Begegnungen Fragen an mich stellen. Das, wovon ich mich ansprechen lasse, setzt mich in Bewegung und ich tue etwas, sozusagen als Antwort.

Die Rose, die am Weg vor meiner Haustüre wächst, wäre über den Sommer vielleicht vertrocknet. Sie fragt mich im Vorbeigehen, wie ich eigentlich umgehe mit den Ressourcen unserer Erde. Und ob ich sie überhaupt wahrnehme, diese wilde, unveredelte, rote Rose? Es könnte sein, dass ich sie deswegen wahrnehme, weil ich als Kind im Garten meiner Eltern oftmals Rosen schneiden durfte, oder meist eher: musste. Jede Frage hat eine Geschichte, und jede Antwort auch. Und ohne Frage bleibt die Geschichte im Dunkel.

Fragen sind also «gut». Sie sind «gut», weil sie in Gang setzen können und etwas eröffnen können. Ich glaube, dass eine «gute Frage» eine ist, die aus einem Herzen kommt, oder eine, die aus einem Kopf kommt. Eine also, die aus Liebe oder die aus Interesse gestellt wird, im Idealfall wohl aus beidem. Fragen, gute Fragen, sind ein mächtiges Werkzeug. Wie alles «Gute» sind sie mitunter sehr gefährlich. Indem sie öffnen können, können sie blossstellen. Indem sie berühren können, können sie verletzen. Indem sie bewegen können, können sie überfordern. Sokrates, der als antiker Meister in der Kunst des Fragens gilt, gelang es, im Dialog mit anderen ihre Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Er wurde zum Tod verurteilt und trank den Schierlingsbecher. Jesus erwartete das Kreuz. Auch er hatte gute Fragen gestellt.

Auf dieser Seite finden Sie, liebe Leserin und lieber Leser, ab jetzt in den forum-Ausgaben je eine «gute Frage». Sechs philosophisch und theologisch versierte Menschen werden sich abwechslungsweise ein Herz nehmen und manchmal vielleicht auch Mut, sich damit auseinanderzusetzen. Es werden Glaubensfragen sein: weil uns der Glaube einfach vor viele gute Fragen stellt.

Und ich, ich werde mir bald ein Herz nehmen und meinen Grossvater tatsächlich fragen. Hoffentlich.

Text: Veronika Jehle