Ein Schreckgespenst geht um

Editorial

Ein Schreckgespenst geht um

Es ist nun wirklich kein Geheimnis mehr: In der Römisch-katholischen Kirche rumort es gewaltig. – Aber müssen wir deshalb die Kirchenspaltung befürchten?

Eine grosse Mehrheit der Bischöfe in Deutschland will nicht länger effektlos über Kirchenreformen reden. Sie wollen Reformen anstossen, umsetzen, mittragen. Und sie wollen jetzt damit beginnen, nicht erst in ferner Zukunft. Eine kleine Minderheit jammert daraufhin beim Heiligen Vater: «Dürfen die das?» – Die Antwort des Papstes finden Sie im Beitrag «Vatikan zieht Grenzen».

Wenn in unserer Kirche Veränderungen gefordert werden, die über die korrekte Krümmung des Bischofsstabs hinausgehen, ertönt schnell der besorgte Ruf: Da müssen wir nun aber ganz vorsichtig sein, sonst droht die Kirchenspaltung. Und das wollen wir doch nicht, dass sich unsere lieben Brüder oder Schwestern von der Kirche abwenden.

Allerdings: Vor fünfzig Jahren betrug der Anteil der Katholikinnen und Katholiken an der Schweizer Bevölkerung 47%. Heute sind es noch 34 %. Diese Abwendung von der Kirche nehmen nicht nur unsere Bischöfe erstaunlich gelassen hin. Da scheint wenig Trennungsschmerz zu herrschen. Die besonders Hartgesottenen tun diese Abwendung sogar leichthin als Abfall vom Glauben ab. Und weil es nur einzelne Schäfchen sind, die sich abwenden, nimmt auch niemand das grosse Wort Kirchenspaltung in den Mund.

Wenn Traditionalisten mit Auszug drohen, weil ihr Bischof ihnen zu wenig katholisch ist, dann geht sofort das Gespenst der Kirchenspaltung um. Tatsächlich ist jedoch die individuelle Abwendung von der Kirche – Schäfchen für Schäfchen – viel bedrohlicher. Sie stellt viel fundamentaler in Frage, was die Kirche unserer Gesellschaft noch zu bieten hat.