Wo war ich vor meiner Geburt?

Glauben heute: Eine gute Frage

Wo war ich vor meiner Geburt?

Manche Fragen drängen sich im Laufe eines Lebens notgedrungen auf, etwa die Frage nach dem Sinn des Lebens oder nach den eigenen Stärken. 

Zu dieser Kategorie zählt die Frage im Titel keineswegs, sie kann problemlos auf der Strecke bleiben. 

Mich traf sie aus heiterem Himmel, als ich mit unseren beiden Kindern Fotos anschaute aus einer Zeit vor ihnen, auf denen sie also fehlten. «Wo war ich?» Die Vorstellung, dass es sie damals noch nicht gab, schien sie zu verstören. «Das kann nicht sein! Wo war ich vor meiner Geburt und vor der Zeit in deinem Bauch?» Ich fand die Frage gleichermassen naheliegend wie genial. Ich fragte mich, wieso ich bisher dazu neigte, eher darüber nachzudenken, was nach dem Tod sein könnte – als vor der Geburt.

Ausgehend vom alltäglichen Erleben stellt sich diese Frage gar nicht; denn ich erfahre mich ja als höchst real. Jeden Morgen wache ich auf als ich, ich spüre mein Herz klopfen, ich höre mich zu anderen sprechen, ich nehme wahr, wie andere mich anschauen, auf mich reagieren und spüre ihre Berührungen auf meinem Körper. Seit ich fühlen und denken kann, existiere ich. Aus der Erfahrung also bin ich ewig.

Natürlich weiss ich, dass hier meine Wahrnehmung trügt: Mein Leben ist flüchtig, es gab eine lange Zeit vor meiner Existenz auf der Erde und es wird eine lange danach geben. Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist es höchst unwahrscheinlich, dass überhaupt Leben existiert, noch unwahrscheinlicher, dass «ich» existiere. Nichtsdestotrotz ist diese Unwahrscheinlichkeit eingetreten – ein Sechser im Lotto!

Diese Gedanken lassen mich demütig werden. Meine eigene Existenz versetzt mich in Staunen. Ähnlich schien es den Menschen zu gehen, die an der Bibel mitgeschrieben haben. Im Ersten wie im Zweiten Testament finden wir die Vorstellung vom Buch des Lebens, wo alle unsere Namen aufgeschrieben sind. Oder jenen Psalm habe ich im Ohr, in dem besungen wird, dass Gott mich durch und durch kennt, mich gewoben hat im Schoss meiner Mutter (Psalm 139). Das sind starke Bilder. In ihnen scheint die Hoffnung auf, die sich an etwas Übergeordnetes wendet, die von einem liebevollen Plan und der Zuwendung zu jeder einzelnen Person ausgeht. Das berührt mich. Es hat etwas Wärmendes und Tröstendes. Ich fühle mich eben gerade nicht verloren im All; auch wenn dies aus naturwissenschaftlicher Perspektive berechtigt wäre.

«Wo war ich vor meiner Geburt?» Ich kann diese Frage unserer Kinder nicht mit hartem Faktenwissen beantworten. Oder es bliebe dann beim Nichtwissen, wie bei anderen Antwortversuchen auf bedeutsame Fragen. Auf Fotos sehen wir: «Damals warst du noch nicht da. Wir haben dich liebevoll erwartet, uns auf dich gefreut und uns danach gesehnt, dich in unseren Armen zu halten.» Der Glaube, dass es Gott mit uns genauso geht, gibt unserer Existenz eine ungeheuerliche Tiefe.

Text: Mirjam Duff