z. B. Marcel Oester

Porträt

z. B. Marcel Oester

Von der Kirchenbasis ist oft die Rede – aber fast nie von den Menschen, welche die Basis ausmachen. Marcel Oester ist das dritte Gesicht in unserer Porträtreihe «z.B.».

Wir gehen auf dem Jakobsweg über den Steg von Rapperswil nach Pfäffikon. Dieses Stück Weg ist Marcel Oester mindestens schon fünfmal gegangen. Meist mit seinem Wanderstab, einem grossen Ahornast, den er auf seiner ersten Etappe von Einsiedeln nach Sarnen auf der Haggenegg gefunden hat, dem höchsten Punkt des schweizerischen Jakobsweges. Der Stab war dann Begleiter und Stütze auf allen Etappen bis nach Santiago di Compostela.

Die Weite des Sees im leichten, winterlichen Nebeldunst öffnet auch innerlich. «Wandern war eigentlich nicht mein Ding», sagt der 54-Jährige, der als administrativer Spezialist auf dem Steueramt Adliswil arbeitet. «Ich hätte nie gedacht, dass ich tageweise draussen zu Fuss unterwegs sein würde.» Sein einziger längerer Marsch seien die obligaten 20 Kilometer im Militär gewesen. Eine Kollegin habe aber dermas-sen vom Jakobsweg geschwärmt, dass er beschloss, einen Teil mit ihr zu pilgern. Das war vor mehr als 16 Jahren. «Als wir nach drei Tagen durch die Natur übers Flüeli-Ranft nach Sarnen kamen und mit dem Zug zurück nach Zürich fuhren, war ich erschlagen. Was für ein Lärm! Was für ein Gestank in der Stadt!» Die drei Tage in der Stille hätten seine Sinne komplett verändert. Und sofort wusste er: Ich werde wieder auf den Jakobsweg gehen!


Als die Blasen nicht heilen wollten

Marcel Oester ist den Weg dann in Etappen gegangen, zwei bis vier Wochen in den Ferien. Und immer wieder hat er gespürt, «dass etwas dahintersteckt». Innerlich und manchmal auch ganz konkret sei er geführt worden: als bei einem medizinischen Notfall die Herberge zufällig von einer Schweizerin geführt worden sei, die konkret weiterhelfen konnte. Als in einem überfüllten Dorf in der ersten Unterkunft gerade ein Bett frei wurde. Auch damals, als die Blasen an seinen Füssen nicht mehr heilen wollten und er ausgerechnet mit einer Ärztin auf dem gleichen Wegstück unterwegs war. Und an seinem Geburtstag, als er so viele Ständchen und Wünsche bekam wie noch nie in seinem Leben zuvor. 

Wir bleiben stehen und bewundern einen Kormoran, der, auf einem Pfosten im See stehend, seine Flügel zum Trocknen ausbreitet. Marcel Oester zückt sein Handy, der Vogel wird am Abend sein Statusbild sein.

Wie fühlt er sich als kirchlich engagierter Mensch? «In der Kirche macht mir schon einiges Mühe. Beispielsweise, dass sie sich nicht umbaut!» Es gebe Strukturen, die doch schon lange nicht mehr aktuell seien. «Ich denke oft: was würde Jesus sagen, wenn er heute diese Organisation sähe, die doch aufgrund seiner Leitplanken aufgebaut worden ist. Ob er an dem, was dabei herausgekommen ist, Freude hätte?» Marcel Oester zweifelt. «Jesus war nicht einer, der Macht ausgeübt hat. Er hat sich stark um Benachteiligte gekümmert. Oder wie er mit Frauen umgegangen ist, das war für jene Zeit revolutionär. Das sollte doch ein Zeichen sein, dass man mal etwas machen muss, damit beide gleich-wertig behandelt werden, auch in der Kirche.» 

Auf dem See schaukeln schlafende Enten. Oder Blesshühner? Offenbar frieren sie nicht, denken wir und wandern weiter. 


Beständige Engagements

Ist ihm schon mal der Gedanke an einen Kirchenaustritt gekommen? «Eigentlich habe ich nicht gerne Veränderungen», sagt Oester. Vielleicht ist er deshalb nicht ausgetreten und auch all seinen kirchlichen Engagements ein Leben lang treu geblieben – ausser dem Ministrantendienst, damit hat er Mitte zwanzig altersbedingt aufgehört. Mit 27 Jahren begann er, im Chor der pfarreilichen Musikgruppe mitzusingen. Und auch mehr als ein Vierteljahrhundert später geht er immer noch jeden Donnerstag mit Begeisterung in die Probe. Fast genauso lang verwaltet er die Kasse des Vinzenzvereins, der sich um Bedürftige der Pfarrei kümmert. Später hat er sich als Lektor im Gottesdienst engagiert, inzwischen leitet er diese Gruppe von Freiwilligen. Und vor 12 Jahren kam schliesslich das Amt in der Rechnungsprüfungskommission der Kirchgemeinde dazu. «Ich tue gerne etwas Gutes für andere», sagt er dazu bloss. Etwas hat sich aber doch klar verändert in seinem Leben: «Ich bin nicht der Sporttyp, aber ich habe entdeckt, dass ich etwas richtig gut kann: lange Strecken wandern. Heute kann ich nicht mehr ein Wochenende lang zuhause bleiben wie früher. Auch im Alltag muss ich mich bewegen, gehe zu Fuss zur Arbeit.»

Eine ganze Schar von Gänsen lagert am Ufer des Obersees und findet unter der leichten Schneedecke offenbar genug Futter. Fasziniert halten wir an. Ob hier wohl Nils Holgersson irgendwo versteckt ist? 

Marcel Oester war auf vielen Pfarreireisen mit dabei, angefangen als Jugendlicher auf einer Polen-Reise, die bleibende Erinnerungen an das Glaubensleben der Menschen in einem damals noch kommunistischen Land hinter dem Eisernen Vorhang hinterlassen hat. Diese Reisen – gerade zu Partner-Pfarreien in Argentinien oder den Philippinen – haben ihm Erlebnisse ermöglicht, die einem gewöhnlichen Touristen verwehrt bleiben. Und er, eher schüchtern, hat auf diese Weise viele Menschen kennengelernt.


Befreiung und Balsam für die Seele

Zu seinem sozialen Netz gehört auch die Gemeinschaft im Chor. «Nach meiner Scheidung war das regelmässige Singen eine Befreiung und Balsam für die Seele. Es war eine Struktur, ein Ort, wo ich sein konnte: eine Art Familie», sagt Marcel Oester. Er, der nach der Geburt des ersten Kindes seine Arbeit auf 50 Prozent reduziert hatte – «damals war ich damit ein Pionier» – litt sehr darunter, die Kinder nach der Scheidung nicht mehr so nahe begleiten zu können. 

Nach den ersten Etappen mit der Bekannten, die ihn damals zum Pilgern gebracht hat, wagte Marcel Oester den nächsten Schritt: Er machte sich ganz allein auf den Weg. Nach und nach habe er dabei auch seine Scheidung verarbeiten können. «Auf dem Weg lernt man, auf sein Inneres zu hören, lernt man seine Grenzen kennen.»

Die Vielfalt der Erfahrungen fasziniert ihn: «Unterwegs entdeckt man wunderbare alte Kirchen und fantastische Landschaften. Und manchmal geht es durch unschöne Industrie-areale und Strassen. All das gehört dazu, wie im Leben auch.» Als er kurz vor Santiago in einem Café sass und im Radio das Lied von George Harrison «My Sweet Lord» lief, erlebte er sein persönliches Highlight. Während Harrison «I really want to see you, really want to be with you» sang, fühlte sich Marcel Oester umhüllt von dieser gött-lichen Präsenz, die «dahintersteckt». Und ihm wurde bewusst: Ohne die schmerzhafte Trennung hätte er sich nicht auf diesen Weg machen können und diese stärkenden Momente nie erlebt. «Es entsteht meistens etwas Positives. Selbst aus etwas, das nicht so gut ist.»

Die ersten Häuser und der Bahnhof von Pfäffikon kommen in Sicht. Ein kurzes Stück Jakobsweg endet hier – sicher nicht das letzte. 

Text: Beatrix Ledergerber