Besonders deutlich wird diese Bandbreite an christlichen Feiertagen. Die USA sind die Heimat des Santa Claus, doch das religiöse Fest hinter dem Weihnachtsrummel ist Privatsache. So wünscht man sich auf den Strassen nicht «Merry Christmas!», sondern «Happy Holiday!». Und öffentliche Einrichtungen scheuen sich, einen Weihnachtsbaum aufzustellen, um Angehörige anderer Religionsgemeinschaften nicht auszuschliessen. Doch vor der Rede der Bürgermeisterin zur Lage der Stadt betet der geladene Prediger: «Danke, Herr, dass du der Gott der Stadt Boston bist und dass du diese Stadt liebst.» Das Verhältnis der Amerikaner zur Religion bleibt mir ein Rätsel.
Seit acht Monaten lebe ich nun in den USA und neben all den Fragen, die ich habe, ist mir eines klar geworden: Amerikanische Filme und Fernsehserien vermitteln ein Schwarzweissbild der USA. Wer nach den Farbtupfern und Grautönen Ausschau hält, die nicht in dieses Schema passen, wird tausendfach fündig.
Jenes farbenfrohe Bild, das sich daraus ergibt, will ich in meinen Kolumnen vermitteln. Wovon ich berichte, sind meine persönlichen Eindrücke, geprägt durch die Stadt Boston, in der ich lebe und die als eine der europäischsten Städte der USA gilt. Ein Farbtupfer in einem Land, das zu gigantisch ist, um es aus einem Blickwinkel zu erfassen.
Heute ist ein Sonntag im Februar: Der Pfarrer in der Kirche des hl. Ambrosius bittet um eine Spende, um die Kirche heizen zu können. Und er bittet die Kirchenbesucher, keine Waffen mitzubringen. Waffengewalt ist ein Dauerthema in diesem Land. Fast keine Woche ohne Schiessereien in Boston, und dabei ist dies eine der sicheren Städte in den USA. Kein Wunder macht das Thema auch vor den Kirchen keinen Halt. Dass ein katholischer Pfarrer im gleichen Gottesdienst um Heizölspenden bittet, erscheint mir jedoch noch immer seltsam. Aber so ist das eben, wenn es keine Kirchensteuern gibt:
keine Spenden – keine warme Kirche.
Der Gottesdienst, den ich besuche, ist die einzige englischsprachige Messe in der Ambrosius-Kirche. Alle übrigen sind auf Vietnamesisch oder Spanisch. In Boston lässt sich Weltkirche hautnah erleben: Im North End, dem italienischen Stadtviertel Bostons, werden Messen auf Italienisch gehalten, im polnischen Viertel Dorchesters bevorzugen Gläubige die Mundkommunion. In East Boston, dem Stadtviertel mit der höchsten Zahl an Einwanderern überhaupt, gibt es neben Pfingstkirchen auch viele katholische Kirchen, die hauptsächlich von Salvadorianern und Guatemalteken belebt werden.
In den Kirchen spiegelt sich die Diversität des ganzen Landes wider. Die USA sind ein Schmelztiegel und zumindest in den Städten spielt es keine Rolle, ob jemand in den USA geboren wurde oder nicht. In einer Zeit, in der in europäischen Medien oft die Rede von Republikanern ist, die eine Mauer bauen wollen, ist es mir ein besonderes Anliegen zu betonen: Ich glaube, die USA sind das offenste Land, in dem ich je gelebt habe.