Einer Reliquie auf der Spur

Reportage

Einer Reliquie auf der Spur

Die Pfarrkirche St. Paulus in Dielsdorf wird saniert. Beim Ausräumen der 
Sakristei werden zwei Steinplatten gefunden. Sie müssen etwas mit Liturgie 
zu tun haben. Aber was?

Ich schicke eine Mail mit einem Bild an drei Menschen, die sich in liturgischen Fragen auskennen. Allen stelle ich die gleiche Frage: «Was sind das für Gegenstände, die hier abgebildet sind?» Kurz darauf klingelt das Telefon. Martin Conrad, langjähriger Mitarbeiter am Liturgischen Institut der deutschsprachigen Schweiz, vermutet, dass es sich um Altarsteine handelt. – Altarsteine? Noch nie gehört. Er sei gerade in den Ferien und nur zufällig am Schreibtisch, erklärt Martin Conrad weiter. Wir verabreden einen Termin unmittelbar nach seiner Rückkehr.

Jahrzehnte im Dornröschenschlaf

Alltäglicher geht es kaum: Beim Ausräumen der Sakristei vor der Sanierung Anfang 2022 fallen dem Sakristan der Pfarrei die beiden Steinplatten in die Hände. Was das wohl ist? – Wofür das einmal gut war? – Und vor allem: Was soll nun damit geschehen? Von den Verantwortlichen hat zunächst niemand hat auch nur annähernd eine Antwort. Niemand hat die Steine jemals gesehen. Nicht einmal Therese Dörflinger, die in Dielsdorf aufgewachsen ist und sogar die Zeit vor 1962, vor dem Kirchenbau, hautnah miterlebt hat. Damals war ihr Vater der Sakristan. Er hat jeden Sonntag ein Schulzimmer umgebaut, damit darin eine katholische Messe gefeiert werden konnte. Therese Dörflinger blieb der Pfarrei verbunden. Heute ist sie Kirchenpflegepräsidentin in Dielsdorf. Angesichts dieser Steine gesteht sie allerdings: «Ich stehe wie ein grosses Fragezeichen davor.» Niklaus Heller, Aktuar der Kirchenpflege, sucht daraufhin im Archiv der Pfarrei und überprüft die Rechnungsbücher: keine Dokumentation, kein Hinweis. Könnte es sich um Reliquien handeln, also um kleine Überreste von Heiligen, eingeschlossen in diese schönen Steine? Braucht es solche Reliquien nicht in jeder katholischen Pfarrei? Fidel Wyss, Liegenschaftsverwalter und mit Bauangelegenheiten vertraut, hat eine erste These:

«Ich vermute, das sind Reliquien, die man eigentlich in die Altäre hätte einsetzen sollen – die grosse Platte in den Hauptaltar und die kleinere in den Seitenaltar. Unser Hauptaltar ist ja aus massivem Beton, man hat diesen wahrscheinlich gebaut und ist dann erst später draufgekommen, dass es Reliquien braucht.»

Dazu würde die Jahreszahl 1966 passen, die auf dem grösseren der beiden Steine eingemeisselt ist. Denn Altar und Kirche wurden 1962 eingeweiht.

In Dielsdorf werden weitere alteingesessene Kirchenmitglieder nach den Steinen gefragt. Ohne Erfolg. Schliesslich erhält Niklaus Heller im April 2022 den Auftrag, in der «Causa Reliquien Kirche Dielsdorf» im Generalvikariat in Zürich nachzufragen.

Erste Spuren

Dann erhält Niklaus Heller Post aus dem Generalvikariat. Laura Sutter gibt Auskunft, dass man weder in Zürich noch in Chur eine Weiheurkunde gefunden habe. Allerdings sei Albert Fischer, Diözesanarchivar in Chur, in der «Folia Officiosa» auf einen Hinweis zur Altarweihe gestossen. Die «Folia Officiosa», von 1895 bis 1967 das Publikationsorgan des Bistums Chur, ist in Latein verfasst. An der entsprechenden Stelle heisst es frei übersetzt: «… hll. Deusdedit, Felix Mart. und Victor Mart., eingelassen im Hauptaltar zu Ehren des hl. Paulus; Weihetag 1. April 1962 (4. Fastensonntag …» Im Hauptaltar der Kirche St. Paulus wurden also offensichtlich doch Reliquien eingelassen, vom heiligen Deusdedit sowie von den beiden Märtyrern Felix und Victor.

Die «Folia Officiosa» hält weiter fest, dass ein zweiter Altar in der Kirche steht, welcher dem Kirchenlehrer Augustinus geweiht ist. Allerdings ohne einen Hinweis auf Reliquien. Und dann steht da noch: «Altare portatile adest in cappella laterali» – «ein tragbarer Altar befindet sich in der Seitenkapelle».

Damit können die beiden Steinplatten immer noch nicht mich Sicherheit verortet werden. Deshalb will der Generalvikar, dass «diese nicht identifizierten Reliquien» ins Generalvikariat gebracht werden, um sie dann dem Bischöflichen Ordinariat in Chur zur Aufbewahrung zu übergeben. All das schreibt Laura Sutter an Niklaus Heller. Daraufhin bringt er die Steine ins Generalvikariat.

Vergessen gegangene Notlösung?

Albert Fischer ist als Archivar des Bistums Chur eigentlich nicht für Reliquien zuständig. Als ich mit ihm telefoniere, erzählt er, dass in jeden Altar Reliquien eingelassen werden, bevor er geweiht werden kann. Es gebe aber auch tragbare Reliquien, die – zumindest früher – an Orten verwendet wurden, an denen kein geweihter Altar zur Verfügung stand. Seine These lautet deshalb:

«Bevor in Dielsdorf die Kirche geweiht war, könnte man auf diesen Steinen Eucharistie gefeiert haben. Einer der Steine könnte auf dem Seitenaltar gelegen haben, solange dieser Altar noch nicht geweiht war. Denn früher zelebrierte jeder Priester täglich die Heilige Messe, man benutzte also durchaus mehrere ‹Altäre›.»

Möglich wäre also, dass der Vater von Therese Dörflinger, als er damals das Schulzimmer zum Gottesdienstraum umbaute, einen dieser Steine auf den Tisch legte und mit diesem «Altarstein» die Feier der Messe erst möglich machte. Das war allerdings vor 1966, also käme dafür nur der kleinere der beiden Steine in Frage. Vielleicht hat Therese Dörflinger den Stein beim Mitfeiern der Messe deshalb nie bemerkt, weil er unter dem Altartuch verborgen lag. So musste das nämlich sein, wie ich während meiner Recherche an einer Stelle lese. Und ich lese viel: als Einstieg Wikipedia, dann die Zeitschrift für christliche Kunst von 1903, weiter das Lexikon für Theologie und Kirche, schliesslich im «Braun», dem Standardwerk zu Altarfragen von 1924. Auch die Tageszeitungen von 1962 konsultiere ich und bin erstaunt, in den «Neuen Zürcher Nachrichten» vier Seiten zur Kirchweihe von St. Paulus Dielsdorf zu finden. Allerdings ohne jeglichen Hinweis auf Reliquien oder 
Altarsteine.

Altarsteine wieder verwenden

Als Martin Conrad, der mich auf die Spur der «Altarsteine» gebracht hatte, aus seinen Ferien zurück ist, treffen wir uns dort, wo inzwischen auch die Steine liegen: im Generalvikariat in Zürich. Wir schauen sie gemeinsam an, überlegen, diskutieren. Und fantasieren, was nun mit diesen Altarsteinen geschehen könnte, auf die niemand gewartet hat. «Ich fände schön, sie würden wieder zurück in die Pfarrei kommen, wo sie gefunden wurden», sagt der Liturgiker. «Man könnte mit Hilfe von fachkundigen Untersuchungen herausfinden, welche Reliquien darin ruhen und dann jeweils am Gedenktag dieser Heiligen in der Gegenwart der Reliquien deren Gedächtnis feiern.»

Leserbriefe

Bei den beiden «Altarsteinen» handelt es sich in der Tat um zwei «tragbare Altäre». Zum einen würde es wenig Sinn machen, einen Altarstein, der später bei der Weihe des Altares in diesen eingelassen wird, mit einem festen Holzrahmen zu versehen. Zum anderen erinnere ich mich noch gut an meine Jugendzeit: Auf einer Bergwanderung, bei der eine Eucharistie gefeiert wurde, durfte einer der Teilnehmer den «tragbaren Altar» in seinem Rucksack mittragen.

Übrigens meine ich, die beiden «tragbaren Altäre» in Dielsdorf auch einmal gesehen zu haben. Es ist durchaus verständlich, warum in St. Paulus zwei solche vorhanden sind. Ende der 70er und in den 80er Jahren war ich als Dominikaner öfters in Dielsdorf auf Aushilfe. Damals mussten zwei Priester samstags und sonntags an fünf Orten Gottesdienst halten. Jeder war auch einmal in St. Paulus, aber man ist sich nie begegnet. Und wenn man sich nach dem Gottesdienst zu lange mit jemandem unterhielt, kam bald die Frage: «Müssen Sie nicht weiter zum nächsten Ort?»

Viktor Hofstetter OP,  Zürich

 

Im Gespräch mit Anna Barbara Müller spricht diese von Weiheurkunden der Steine, die noch nicht gefunden wurden. Hat man auch im Pfarreiarchiv Niederhasli danach gesucht? Zu meiner Zeit – ich bin 1945 geboren und habe von 1950 bis 1966 in Mettmenhasli gewohnt – war die Kapelle in Niederhasli die Pfarrkirche für die weitläufige Pfarrei, zu der viele Dörfer gehörten, von Niederglatt bis Schöfflisdorf – also auch Dielsdorf. Wir hatten bei Pfarrer Casimir Meyer Unterricht, zeitweise zusammen mit den Kindern von Dielsdorf. Pfarrer C. Meyer wurde dann der erste Pfarrer von St. Paulus. Es könnte doch sein, dass die Altarsteine gebraucht wurden für Messen in den verschiedenen Dörfern der Pfarrei, lange bevor die Paulus-Kirche in Dielsdorf gebaut wurde, zu der Zeit also, als die Kapelle in Niederhasli die einzige in der Pfarrei war.

Franziska Schwaller,  Männedorf


Text: Veronika Jehle