Sie verliess unsere Klasse mit 13 Jahren. Diese Entwurzelung war für uns Freundinnen schwer. Dreissig Jahre später fanden wir uns wieder. Mittlerweile ist sie zur hippen Zürcherin geworden, nichts mehr an ihr erinnert an das ursprüngliche Kleinstadtmilieu von damals.
Drei Jahre lang hatten wir uns nicht mehr getroffen. Unterdessen sind wir beide ... «dick» geworden: Zu wenig Bewegung, zu viel im Kühlschrank und das steigende Alter fordern ihren Tribut. Ich freue mich aufs Wiedersehen und reserviere in einem schönen Restaurant.
«Ich war schon lange nicht mehr so glücklich!», strahlt sie. «Schön – was ist der Grund dafür?» – «Ich habe absolut keinen Hunger mehr – ich mag überhaupt nicht mehr essen!» – «Das verstehe ich nicht», hake ich nach. «Eine befreundete Ärztin hat mir eine Spritze verschrieben. In drei Wochen habe ich drei Kilos verloren. Ich fühle mich sooo gut.» – «Ah, das neue Diabetes-Medikament. Seit wann bist du denn krank?».–«Bin ich ja nicht, ich will nur abnehmen. Das ist spitze. Wie schwer bist du?»
Ähm. Das ist jetzt ein bisschen direkt, meine Liebe, denke ich. Aber es trifft einen wunden Punkt. Eben hat die Fastenzeit begonnen, und der russische Aggressionskrieg jährt sich. Heute Morgen läuteten die Kirchenglocken. Und wir? Wir sitzen bei Kerzenlicht am Tisch, satt und rund. Das schlechte
Gewissen klopft an Herz und Bauch. Gedanken an die, die nichts haben. Langsam wird mein Teller leer, der andere bleibt zu drei Vierteln voll. «Ich bin so glücklich. Ich sage dir: Das musst du auch machen, ich zeige dir, wies geht!» Ich spüre den Druck und möchte so einiges an dieser paradoxen Situation ansprechen, bringe aber kein richtiges Gespräch mehr zustande. Bald einmal brechen wir auf.
Dieses Wiedersehen ist nach hinten losgegangen, es war mir richtig unwohl dabei und beschäftigt mich noch eine ganze Weile. Umso mehr ich, zuhause angekommen, im Radio höre: Weltweit stieg die Zahl der hungernden Menschen während der letzten drei Jahre von 150 auf 349 Millionen an. Und wir zwei sitzen vor vollen Töpfen und jammern über Wohlstandsgebrechen. Scham überkommt mich angesichts dieser klaffenden Schere zwischen Überfluss und Elend. Und Sprachlosigkeit der alten Freundin gegenüber. Stumm gehe ich schlafen.
Fastenzeit! Morgen früh ist Handlungsbedarf angezeigt. Abgeben von meiner Fülle. Weiterschenken, so gut es nur geht. Das ist wohl das wahre Fasten.