«Wir können wieder frei diskutieren», sagte ein Jesuit und Philosophie-Professor wenige Monate, nachdem Jorge Mario Bergoglio sein Amt als Papst Franziskus angetreten hatte. Dabei ist es geblieben. Viele Theologinnen und Theologen fühlen sich vom jetzigen Papst in ihrer Arbeit ermutigt. Auch die Ernennung von Joseph Bonnemain zum Bischof von Chur und der Klimawandel im Bistum seither gehen mindestens zum Teil auf Papst Franziskus zurück. Gleichzeitig kann der Mann aus Buenos Aires manchmal atemberaubend hart mit seinen konservativen innerkirchlichen Gegnern sein: Vom Präfekten der Glaubenskongregation Kardinal Gerhard Ludwig Müller trennte er sich ohne Federlesen.
Mit Bergoglio sind die Vitalität und die Rauheiten lateinamerikanischer Grossstädte an die Spitze der Weltkirche gelangt. Sein erster Blick gilt nicht Europa. Manchmal wirkt er wie eine furchtlose Figur aus dem Film «Relatos salvajes». In diesem argentinischen Kinoerfolg von 2014 wird gestochen und vergolten, geweint und geliebt. So beherzt sich Bergoglio in Buenos Aires der Drogenmafia entgegenstellte, so angstfrei scheint Franziskus jetzt in direkten Begegnungen und angesichts innerkirchlicher und theologischer Minenfelder voranzugehen. Allerdings ist diese Souveränität offenbar nur zu haben mit seinen wiederholten Flapsigkeiten; zum Beispiel über Schwiegermütter, das Prügeln von Kindern oder dass Deutschland keine zweite evangelische Kirche brauche. Und ohne Not irritiert er regelmässig gerade jene sensiblen und klugen Frauen, die unsere Kirche so sehr bräuchte.
Viele Indizien deuten darauf, dass Bergoglio im Laufe seines Lebens eine tiefgreifende Wandlung durchgemacht hat. Die argentinischen Jesuiten Orlando Yorio und Franz Jalics berichteten, Bergoglio habe sie in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts der Militärjunta ausgeliefert. Bis heute sind jene Vorkommnisse kaum aufgearbeitet. Als Papst Franziskus gefragt wurde, wer er sei, antwortete er: ein Sünder, der von Jesus angeschaut worden sei. Seine Worte deuten darauf, dass ihn seine Vergangenheit bis heute prägt.
Mitunter schlägt der früher leidenschaftliche Fussballfan Bergoglio als Papst spektakuläre, ja riskante Pässe. Er reist auf Inseln zu Geflüchteten oder setzt im Schreiben «Amoris laetitia» eine gewichtige Fussnote. An seinen Mitspielerinnen und Mitspielern – auch an uns – läge es, auf seine Pässe und Intentionen kreativ einzugehen. Da wäre mehr möglich.
Wahrscheinlich wird er weiterhin Freiräume für Diskussionen zulassen, ohne klar Position zu beziehen. Gemessen werden wird sein Pontifikat auch daran, welche greifbaren Resultate der synodale Prozess ergeben wird.
Bleiben werden seine sozialpolitischen und ökologischen Akzentsetzungen. Vor allem seine Enzyklika «Laudato si’» (2015) gilt als ernst zu nehmender Aufruf zum weltweiten kirchlichen Umdenken in Umwelt- und Klimafragen. Bleiben wird, dass er Oscar Romero heiliggesprochen, Maria Magdalena den Aposteln gleichgestellt und im Kardinalskollegium mehr südliche Perspektiven eingebracht hat. Und bleiben wird sein Bild, dass die Kirche ein «Feldlazarett» ist, das die Wunden der Menschen verbindet – und in dem er selbst seinen Beitrag zu leisten versucht.