In Indien gehört das Gebet zum Alltag … auch in der Öffentlichkeit

Bericht aus Mumbai

In Indien gehört das Gebet zum Alltag … auch in der Öffentlichkeit

Austausch der Kulturen und Gerechtigkeit in der Wirtschaft sind das grosse Anliegen von Jutta Beyer, die seit über 20 Jahren in Indien lebt.

Als ich vor 20 Jahren in Mumbai ankam, war ich von vielen Eindrücken überwältigt. Eines meiner ersten einprägsamen Erlebnisse hatte ich während einer Fahrt in einem öffentlichen Verkehrsmittel. An einer der Bushaltestellen bemerkte ich plötzlich einen Mann, der am Strassenrand stand, mit seinen Händen in Gebetshaltung. Er verbeugte sich in Richtung eines Tempels und betete. Er war ganz in seiner Handlung versunken. Der Lärm und Verkehr um ihn herum existierten für ihn ganz offensichtlich nicht.

Ein weiterer Moment, der mich tief beeindruckte, ereignete sich in einem Bahnhof. Ich war unterwegs mit einer Gruppe von Freunden. Unser Zug hatte Verspätung und so bewegten wir uns Richtung Warteraum, wo schon viele andere Menschen waren und ein ständiges Kommen und Gehen herrschte.

Als wir uns in einer Ecke niederlies­sen, luden mich meine Freunde ein, den Rosenkranz zu beten. Bevor ich antworten konnte, begann das Gebet schon mit lauter Stimme mitten im Warteraum. Und vor uns bemerkte ich einen Mann, der auf seiner ausgefalteten Decke kniete und so wie wir seine Gebete verrichtete. Solche Szenen sind hier alltäglich und keiner wundert oder stört sich daran.

Indien ist eine säkulare Gesellschaft, so ist es in der Präambel der Konstitution Indiens festgeschrieben. Säkular bedeutet, dass es keine Staatsreligion gibt. Jeder ist frei, die Religion seiner Wahl zu praktizieren. Bei der Vielfalt der Religionen in Indien ist das keine Überraschung. Was jedoch überrascht, ist das Verständnis von säkular, also weltlich.

Während weltlich für die westliche Welt bedeutet, Symbole und religiöse Zeichen zu entfernen, um keine Religion zu verletzen, bedeutet es in Indien genau das Gegenteil. Ob in der Schule oder bei öffentlichen Veranstaltungen, jedes Programm beginnt zuerst mit einem Gebet, und das nicht nur von einer Religionsgemeinschaft, sondern von wenigstens drei oder vier.

Glaube und Religion gehören hier zum Leben selbstverständlich dazu. Oft wird dieser Glaube auch lautstark verkündet, mit Glocken und Lärm, besonders wenn Feste gefeiert werden.

Auch die Christen finden einen Weg, ihren Glauben zum Ausdruck zu bringen. Als ich im Dezember über die Weihnachtsfeiertage nach Goa fuhr, konnte ich abends die Beleuchtung der Häuser bewundern, die mit christlichen Symbolen geschmückt waren und in bunten Farben erleuchteten. Die Pfarreien haben sich dort viel Mühe gegeben, indem sie ganze Szenen der Geburt Jesus in Lebensgrösse reproduzierten, zusammen mit einer Licht- und Tonshow. Der Andrang war gross, denn alle wollten die Wunderwerke sehen. 

Was mich hier in diesem Subkontinent besonders berührt, ist der tiefe Glaube der Menschen. Dieser Glaube ist genährt und gepflegt durch das Gebet. Indien lässt keinen Zweifel daran, dass das Gebet unser Leben erfüllt.

Mahatma Ghandi, dem Vater Indiens als Nation, wird der Ausspruch zugeschrieben: «Das Gebet ist für die Seele notwendiger als die Nahrung für den Körper, denn der Körper kann fasten, die Seele nicht.» Ganz ähnlich hat es Chiara Lubich, europäische Christin und Gründerin der Fokolar-Bewegung, ausgedrückt. Sie sah im Gebet den «Atem der Seele, den Sauerstoff unseres gesamten spirituellen Lebens, den Ausdruck unserer Liebe zu Gott, den Treibstoff für all unsere Aktivitäten».

Text: Jutta Beyer