Ach, die liebe Erziehung!

Leben in Beziehung

Ach, die liebe Erziehung!

Drei Töchter und ein Sohn, jetzt alle im Alter zwischen 50 und 60 – sie mussten sich nach Jahren der Kindheit unter der Knute ihrer Eltern im Leben zurechtfinden.

Erstaunlicherweise gelang allen vieren dies recht gut.

Kindererziehung ist eine komplexe Sache, die mindestens eine Bachelor-Ausbildung erfordern sollte. Doch schon Wilhelm Busch, erkannte: «Zwar man zeuget viele Kinder, / doch man denket nichts dabei, / und die Kinder werden Sünder, / wenn’s den Eltern einerlei.»

Einerlei war es den Eltern der vier Kinder zwar ganz und gar nicht, doch einen Abschluss in Advanced Education hatten sie beide nicht. Weder das Handelsschuldiplom noch jenes von der ETH enthielt Lehrstoff im Fach Erziehung.

Bei der ersten Tochter behalfen wir uns mit einschlägiger Literatur, die in den 1960er-Jahren klare Disziplin forderte. Einem hungrigen und schreienden Säugling durfte man weder Brust noch Schoppen reichen, ehe nicht die Uhrzeit zur Angewöhnung eines fest vorgeschriebenen Zeitplanes geschlagen hatte. Es litt der Säugling, es litten noch mehr die Eltern.

Um ihr eigenes Leiden erträglicher zu gestalten, hielten sich die Eltern bei Tochter zwei nicht mehr strikte an die Lehrbuchmeinung. Im Kindes- und Pubertätsalter mussten sich beide Töchter allerdings weiterhin gefallen lassen, dass die Eltern sagten, wo’s duregaht.

Tochter drei nun kam als Säugling in den Genuss eines gewissen Laissez-faire und gab dann schon mit noch bescheidenem Wortschatz lauthals bekannt: «Ich mache, was ich wott.»

Alle drei Töchter entwickelten sich zu ganz brauchbaren Erwachsenen, jede auf ihre Art. Eines Tages ging der Vater mit der dritten, nun 22-jährigen Tochter auf eine Wanderung durch englische Landschaften in triefendem Dauerregen. Man plauderte insbesondere über vergangene Tage, bis die junge Dame bemerkte, sie habe eine schwere Jugend gehabt. Auf die verblüffte Antwort des Vaters, er hätte ihr doch ein Vielfaches an Freiheit gegenüber ihren Schwestern gelassen, antwortete sie: «Das hast du. Aber ich habe immer deine Erwartungshaltung gespürt!» Alle Freiheit im Eimer!

Der Vater war sprachlos. Er musste sich zuerst klarwerden über den ihm bis dahin unbekannten Begriff der «Erwartungshaltung». Wie er begriffen hatte, wurde ihm heiss und kalt beim Erkennen, wie sensibel Kinder auf das unausgesprochene Denken ihrer Eltern reagieren können.

Und der Jüngste, Bruder von drei Schwestern? Er wurde von lieb Mami verwöhnt, denn «er isch doch sonen Chliine». Das hinderte ihn nicht daran, ein erfolgreicher Unternehmer zu werden, innerhalb der Familie zum Berater in allen Lebenslagen.

Text: Hans Jörg Schibli