Tradition entsteht durch Erzählen

Pessah feiern

Tradition entsteht durch Erzählen

Juden auf der ganzen Welt haben im April am Pessach-Fest des Auszugs aus Ägypten gedacht. Rabbiner Ruven Bar Ephraïm stellt das Fest in eine Reihe von grossen Erzählungen, die immer wieder neu geschrieben werden müssen.

An die Rettung aus Unterdrückung und Sklaverei und die wundersame Errettung durch die Plagen wird von Generation zu Generation mit Texten und Symbolen erinnert. Wir essen ungesäuertes Brot, weil unsere Vorfahren aufgrund ihres flüchtigen Auszugs aus Ägypten den Teig nicht gehen lassen konnten. Wir essen bittere Kräuter, um die Bitterkeit der Sklaverei zu symbolisieren. Wir trinken vier Gläser Wein, die jeweils ein Wort der Freiheit im Tora-Text symbolisieren: «Darum sprich zu den Israeliten: Ich bin der EWIGE. Ich werde euch aus der Fron Ägyptens herausführen und euch aus ihrem Dienst erretten und euch erlösen mit ausgestrecktem Arm und durch gewaltige Gerichte. Ich werde euch als mein Volk annehmen und euer Gott sein …».

Immer wieder neu erzählen

Unser wichtigster Auftrag aber ist, die Geschichte des Auszuges aus Ägypten der nächsten Generation zu erzählen. Dies geschieht durch viele Texte und Lieder. Dieses Erzählen geschieht mit Hilfe eines speziell angefertigten Büchleins: der Haggada. Darin werden die Rituale und Texte beschrieben, die beim Nacherzählen helfen können. In allen Generationen ist die Haggada so angepasst worden, dass wir darin Spuren der Aktualisierung finden können. So gibt es eine Passage, in der die Formulierung «Auszug aus Ägypten» als Code für die Befreiung aus der römischen Unterdrückung in Judäa in den ersten beiden Jahrhunderten der Neuzeit steht. Er deutet auf den bevorstehenden Bar-Kochba-Aufstand hin (132–135). Auch Texte aus dem Mittelalter haben ihren Weg in die Haggada gefunden. Darin geht es um die Pogrome, welche die jüdischen Gemeinden im Rheinland erleiden mussten.

Erinnerung an die Schoa

Eine Woche nach dem Ende der Pessachwoche, am Jom haSchoa, gedenken wir der 6 Millionen jüdischen Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, die von den Nazis und ihren Helfern ermordet wurden. Wir verwenden den Begriff Holocaust nicht. Dieses griechische Wort bedeutet Brandopfer, mit dem die Götter zufrieden gestellt werden sollten. Unsere Ermordeten waren aber keine Opfergabe. Das Wort Schoa bedeutet Verwüstung und passt besser zu unserer Erfahrung. Achtundsiebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs könnten nur noch wenige Überlebende ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte ihrer Rettung, ihres Überlebens und die Geschichte vom Ende ihrer Familien.

Diese Geschichte wird nun von ihren Kindern und Enkelkindern erzählt. Dadurch erhält die Geschichte eine andere Nuance. Während die Überlebenden von «umgekommenen» und «nicht zurückgekehrten» Familienangehörigen sprachen, erzählt die jüngere Generation von der brutalen Ermordung ihrer Angehörigen. Diese jüngere Generation hat Raum, auch die Geschichte jener Menschen zu erzählen, welche die Nazis ebenfalls als «Untermenschen» brandmarkten.

Wir erzählen auch von Helden, mutigen Menschen, die zum Beispiel meinen Vater versteckten und dabei ihr Leben und das ihrer Familien riskierten, um ihm das Überleben zu ermöglichen. Von jenem anonymen Helden oder jener anonymen Heldin, die meiner Mutter im KZ an ihrem gemeinsamen Arbeitsplatz etwas zu essen hinterliess. Auch die Menschen, die sich ohne Aussicht auf Erfolg ihren Peinigern in den Ghettos und KZs mit Revolten entgegenstellten. Die Geschichte wird erzählt, in der Hoffnung, dass das Gute im Menschen schliesslich über das Böse siegen wird.

Erinnerung an den Staat Israel

Eine weitere Woche später, also zwei Wochen nach Pessach, erinnern sich die Einwohner des Staates Israel und viele in unserer jüdischen Welt an ein Wunder unserer Geschichte: die Gründung dieses Staates, die in diesem Jahr 75 Jahre zurückliegt. Natürlich hat diese Geschichte nicht am 14. Mai 1948 begonnen. Während der zweitausend Jahre des Exils und der Diaspora war der Blick stets auf Jerusalem gerichtet.

In dieser langen Zeit gab es immer wieder Menschen, die ihre Heimat verliessen und sich in dieser Gegend eine neue Existenz aufbauten. Im 19. Jahrhundert waren es nicht mehr nur Einzelpersonen, sondern kleine Gruppen, die sich organisierten und auf der Flucht vor der Verfolgung in Osteuropa im türkischen Sanjak (Distrikt) von Jerusalem Zuflucht suchten.

Nach gewalttätigen antisemitischen Ausschreitungen in Frankreich im Anschluss an den Deutsch-Französischen Krieg (1871) gründete der assimilierte jüdische Journalist Theodor Herzl aus Wien die Zionistische Weltorganisation. Damit sollte eine Lösung für die durch anhaltende Verfolgung bedrohten Juden gefunden werden. Die Bewegung war politisch motiviert und kann als eine der ersten Befreiungsbewegungen der Neuzeit angesehen werden.

Durch Diplomatie und den Kauf von Land im britischen Mandatsgebiet Palästina wurde zwischen 1897 und 1948 eine Zivilgesellschaft mit Infrastruktur, Städten und Dörfer, Wirtschaft, Presse, politischen Parteien, Bauunternehmen und vielem mehr geschaffen.

Beim Erzählen dieser Geschichte wurde jedoch oft übersehen, dass das Mandatsgebiet nicht leer war. Dort lebten Menschen, in Städten und Dörfern, in der Wüste und in den Bergen. Dort lebten Muslime, Juden, Drusen, Christen und Tscherkessen. Die französische und die britische Regierung versprachen gegen Ende des Ersten Weltkriegs sowohl den arabischen als auch den jüdischen Führern in der Region die Unabhängigkeit. Das wurde zum Nährboden für die aktuellen Probleme. 

Auf der Strasse weiter erzählen

Gerechtigkeit für die einen kann niemals auf Kosten der Gerechtigkeit für die anderen gehen. Die israelische Geschichte handelt von einem neu gegründeten Staat mit einer florierenden Wirtschaft, der sich trotz militärischer Angriffe behaupten konnte. Sie handelt aber auch von einer Gesellschaft, die in vielen Fragen gespalten ist: gespalten über den religiösen Charakter des Landes, gespalten über die Lösung des Konflikts mit den Palästinensern, gespalten über Bürgerrechte, gespalten über die gerechte Verteilung von Geld und Ressourcen, gespalten über die Organisation des Staates.

Diese Geschichte wird in den letzten Monaten auf den Strassen erzählt. Hunderttausende von Israelis gehen jede Woche auf die Strasse, um gegen die von der Regierung geplanten Änderungen des Rechtssystems zu protestieren. Sie sind der Meinung, dass mit diesen Plänen die Demokratie und damit auch ihre Freiheit in Gefahr ist. Es ist eine beeindruckende Bewegung, die durch Israel geht und hoffentlich diese Gefahr abwenden kann.

Die Pessach-Geschichte, die Jom-haSchoa-Geschichte und die Israel-Geschichte sind menschliche Geschichten, die alle drei die Freiheit zum Thema haben. Was dabei immer wieder neu erzählt werden muss: Entscheidend ist nicht die Theorie. Worauf es ankommt, sind die Taten.

Text: Ruven Bar-Ephraïm