Was kann ich besonders gut?

Eine gute Frage

Was kann ich besonders gut?

«Kann es sein, dass jemand etwas sehr gut kann, ohne es zu wissen?», fragt mich unser Neunjähriger beim Nachtessen. Wie er wohl auf diese spannende Frage gekommen ist?

Hat mein Sohn gerade eine Stärke bei sich entdeckt, die ihm bisher unbekannt war? Oder bei einer anderen Person? Überkam ihn die Ahnung, dass unser aktuelles Wissen nicht die ganze Realität abbildet?

Mir fällt das sperrige biblische Gleichnis ein, in dem es um das anvertraute Geld in Form von Talenten geht (Matthäus 25, 14–30). Es hat mich früher als Kind beim Hören empört. Wer sein Geld vermehrt, bekommt mehr davon und wird gelobt. Wer es sicher aufbewahrt, muss es wieder abgeben und wird getadelt. Die von Gott geschenkten Gaben – so die gängige Interpretation – soll ich als Christin einsetzen und weiterentwickeln. Eine Gabe ist also zugleich Aufgabe; statt etwas nur für sich selbst zu 
horten, soll man es lieber so einsetzen, dass es anderen zugutekommt. Diesem Grundsatz kann ich beipflichten. Er führt mich weiter zur Frage: Was sind meine Stärken? Denn um sie einsetzen zu können, ist es von Vorteil, um sie zu wissen. 

Vor einigen Tagen fühlte ich mich bei der Arbeit wie ein Fisch im Wasser. Ich versank in meinem Tun, vergass die Zeit, war in Verbindung mit den Mitmenschen und fühlte mich beschwingt. Der sogenannte Flow tritt in einem Bereich auf, der weder unter- noch überfordert, sondern einen die eigenen Stärken erleben lässt. Solche Situationen zeigen uns, worin wir besonders gut sind.

Es braucht also Gelegenheiten, in denen wir in Aktion oder in Beziehung sind, um unsere Stärken entdecken zu können. Auch eine handfeste Rückmeldung kann unseren Blick auf uns selbst erweitern. Im Lauf des Lebens können sich Stärken mehr und mehr entwickeln. Manche Umstände lassen uns mehr Zeit und Musse dafür. Beispielsweise wenn Menschen, die wir betreuen, erziehen oder pflegen, dieser Zuwendung weniger oder nicht mehr bedürfen. Oder wenn eine Beziehung oder eine Anstellung zu Ende geht. Plötzlich ist wieder Zeit für eine Weiterbildung, für ein altes Hobby oder dafür, ein neues Instrument zu lernen.

Mit neuen Aufgaben, Umfeld oder Fokus sind Fähigkeiten gefragt, die bis anhin nicht nötig waren. Wie hätten wir auch wissen können, eine Begabung für etwas zu haben – ohne es zuvor je gemacht zu haben? Ich stelle mir uns Menschen vor: gerade nicht wie ein in Stein gemeis-

seltes Kunstwerk, sondern eher wie ein wachsender Baum. Er braucht ein wohlwollendes Umfeld, streckt sich dem Licht entgegen. Immer wieder entstehen neue Blüten und Früchte, teils in überraschenden Farben und Formen.

Einige Tage nach dem Nachtessen frage ich unseren Sohn erwartungsvoll nach dem Anlass seiner Frage. «Ach», antwortet er beiläufig, «die hat unsere Lehrerin während der Stunde gestellt und wir hatten keine Zeit, sie zu beantworten.»

Text: Mirjam Duff