Nachfolge, das bedeutet für die Kapuziner und viele andere christliche Gemeinschaften in Boston Dienst an den Ausgestossenen, an den Menschen, die Jesus vom Rand zurück in die Mitte seiner Gesellschaft holte. Ob die Kapuziner, die dreimal pro Woche mit einem Bus Kaffee an Bostons Obdachlose ausgeben, die Paulist Brothers, die jeden Mittwoch ihre Gemeinde mobilisieren, um Essen an Menschen zu verteilen, die zu wenig davon haben, die Franziskaner, die Gottesdienste für LGBTQIA+-Menschen anbieten, oder die sechs Kirchen, die unter dem Namen «Miracle Mile Ministries» den hunderten Drogenabhängigen in der als «Methadone Mile» bekannten Drogenmeile Bostons Hoffnung geben, das Motto zieht sich durch.
Die Herangehensweisen sind unterschiedlich und manches Mal umstritten. So werden die Congregación León de Judá, die Antioch Community Church Brighton, die Cornerstone Church, die Restoration City Church, die Hilltop Church und die Symphony Church für ihren missionarischen Ansatz bei den Miracle Mile Ministries kritisiert. Vor allem die Rolle des Glaubens bei der Heilung von Sucht wird heiss diskutiert. Die USA sind das Geburtsland der Selbsthilfeorganisation Anonyme Alkoholiker, deren 12-Schritte-Programm gleich zu Anfang betont, wie wichtig der Glaube an eine höhere Macht sei, um die Abhängigkeit überwinden zu können. Aber zumindest heutzutage betonen die Anonymen Alkoholiker, dass jeder selbst wählen müsse, was diese höhere Macht für sie oder ihn sei.
Boston ist nur einer von zahlreichen Hotspots der Opioidkrise in den USA, die jährlich landesweit über 80 000 Todesopfer fordert. Nicht selten geht die Sucht mit Obdachlosigkeit einher. Die Zahl der Obdachlosen in Boston ist kein Vergleich mit New York City, wo Schätzungen von mindestens 100 000 Obdachlosen ausgehen, dennoch ist das Elend auch hier überall sichtbar.
Dreimal pro Woche fahren die Kapuziner mit Freiwilligen durch die Stadt, um Obdachlose auf einen Kaffee zu treffen. Sie tun das bei Wind und Wetter und auch am Ostersonntag. Gerade am Ostersonntag, denn wie sonst sollen die Menschen auf der Strasse spüren, dass es ein Tag zum Feiern ist, und wie kann man Jesus besser nachfolgen, als am Tag seiner Auferstehung für die Ausgestossenen da zu sein, für die er zu seinen Lebzeiten immer ein offenes Ohr hatte?
Bei den sogenannten «Mobile Ministries» geht es nicht darum, körperliche Bedürfnisse zu stillen – das machen andere Hilfsorganisationen. Es geht um den seelischen Durst: als Gegenüber wahrgenommen zu werden, in Beziehung zu treten, Mensch sein zu dürfen.
In einer Stadt wie Boston können sich die Niedrigverdienenden schon lange keine Wohnung mehr leisten. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist selbst schuld, wer es nicht aus eigener Kraft vom Tellerwäscher zum Millionär schafft. Staatliche Unterstützung gibt es kaum. Wer chronisch krank wird, muss eben sein Haus verkaufen, um die Behandlung zu bezahlen, wenn er wie so viele hier keine Krankenversicherung hat. Der Weg in die Armut ist kurz und wo staatliche Hilfe ausbleibt, ist die Hilfe der Kirchen umso willkommener. Und so leben Bostons Kirchen Jesu Nachfolge, indem sie seine Sorge für die Menschen am Rand der Gesellschaft fortführen.