«Für mich leben die Steine»

Porträt

«Für mich leben die Steine»

Victor Agudelo sieht in einem Stein, was daraus werden kann. Die Bildhauerei sei seine Natur, sagt er. Von ihm stammen die Motive für unsere forum-Festbilder.

Eine kleine Holzscheune voller Steine, Skulpturen und Werkzeug: das ist das Atelier von Victor Agudelo. Kruzifixe, Holz- und Metallarbeiten hängen an den Wänden, manchmal mit wenig Gold und Silber verarbeitet. Figuren in verschiedenen Grössen, Torsos und Büsten stehen herum, manche machen nachdenklich, andere lassen Schalk aufblitzen. Mittendrin steht der Künstler mit einer Hand in der Schiene und kann daher gerade nicht arbeiten. Nicht einfach für ihn, denn: «Die Idee zu einer Skulptur kommt im Moment, wo ich einen Stein ansehe. Die Steine leben für mich, sie haben Farbe, Form, eine Ausstrahlung ... Ich sehe einen Stein und denke: Das wird ein Torso. Und ich beginne.» Während der Arbeit sieht er: Der Stein deutet einen Flügel an, der aus dem Torso wächst: «Das ist wunderbar. Es ist ein Stein. Es ist ein Frauenkörper. Sie fliegt!» Diese Skulptur habe er dann einer Frau geschenkt, die gerade von Brustkrebs genesen sei, als Zeichen der Hoffnung und Zukunft.

Ohne Ideen aufzuzeichnen oder Berechnungen anzustellen, holt Agudelo aus dem Stein, was er in ihm sieht. Manche Skulpturen haben daher etwas skizzenhaftes, sind halb Stein, halb Figur, teils ausgearbeitet, teils angedeutet: «Wie das Leben, das nie vollkommen ist, immer im Werden.» Andere Arbeiten sind wiederum sehr figürlich, farbig, konkret: «Mein Stil kommt aus Südamerika, wo ich aufgewachsen bin. Ich stamme aus einer Holzschnitzerfamilie.» Dass die Bildhauerei «seine Natur ist», wie er sagt, war ihm aber nicht von Anfang an klar. In seiner Heimat Kolumbien studierte er Musik, in Italien gab er Gitarren-Unterricht und war mit einer Musikgruppe auf Tournee. Ausserdem hat er den schwarzen Gürtel im koreanischen Kampfsport Taekwondo. Und hinter allem: eine tiefe Sehnsucht nach einem Leben mit Gott. Er prüfte das Leben in einer christlichen, zölibatär lebenden Gemeinschaft. Bis ihm klar wurde:  Er ist ein Beziehungs- und Familienmensch und möchte sein spirituelles Leben in dieser Lebensform teilen. Sein Gebet wurde erhört, er traf seine Frau Patrizia, eine Tessinerin, und ist so in der Schweiz gelandet.

«Dass man in der Familie alles miteinander teilt und Mann und Frau gemeinsam entscheiden, habe ich in meiner Jugend in Kolumbien nicht erlebt», erinnert sich Agudelo. «Da hatte der Vater die Macht und die Autorität. Daher sagten auch alle, dass eine Ehe zwischen einem Latino und einer Schweizerin nicht funktionieren wird.» Einfach sei es tatsächlich nicht immer gewesen, «aber wir haben uns immer wieder gefunden». Er findet, die Schweiz sei privilegiert mit ihrer langen Geschichte der Demokratie, und wollte so von Anfang an das gemeinsame Entscheiden in der Familie bewusst lernen und einüben. Denn: «Die schönste Kunst ist die Familie.» Seine eigene künstlerische Arbeit stellt er bewusst bis heute hintan. Um Geld zu verdienen arbeitete er zuerst in einem Restaurationsunternehmen. Heute ist er zu 60 Prozent als Hilfskoch tätig, so bleiben ihm noch Zeit und Raum für seine Kreativität, er macht Auftragsarbeiten oder fertigt Grabsteine.

Sein eigener Grabstein steht schon seit 27 Jahren bereit, vor dem Atelier. Mit 33 Jahren hat er aus einem grossen Stein den Kopf des gekreuzigten Jesus gehauen, der Mund offen im Schrei «Mein Gott, warum hast du mich verlassen?», die angedeuteten Arme ausgebreitet. «Das ist mein Lieblingsstück», erklärt der Künstler. «Es gibt viel Schönes im Leben, aber auch Krieg, Klimanotstand, Gewalt überall ...  so viele Fragen und Probleme. Jesus drückt in seinem Schrei all diese Not aus. Das ist für mich ganz tief.» So tief, dass er zum auferstandenen Jesus schwerer Zugang fand. Vor Jahren hatte Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, der Agudelo verbindlich angehört, seinem Atelier spontan den Namen «Risorto – Auferstandener» gegeben. «Ich konnte mit diesem Namen nichts anfangen», sagt Victor Agudelo. Bis er 2014 schwer an einem Tumor erkrankte. «Ich hatte Angst, dachte: Jetzt ist mein Leben fertig. Nach der Operation spürte ich plötzlich: Das ist ein Herzstillstand. Ich bin am Ende.» Victor Agudelo wird still, schaut in sich hinein, spürt wieder die Erschütterung dieses Moments. «Einerseits war ich ruhig und sagte: Gott, ich übergebe dir meinen Geist. Andererseits dachte ich: Es ist zu früh. Ich habe heranwachsende Söhne, und ich möchte noch Grossvater werden!» Dann nahm er die Bemühungen der Ärzte wahr, ihn zu reanimieren,  und «plötzlich spüre ich einen heftigen Schlag und paff! war ich wieder im Leben.» Da habe er zum ersten Mal verstanden, was «auferstanden» bedeutet. Die folgenden drei Monate habe er noch nicht arbeiten können, «aber es war alles in perfekter Harmonie». Später seien einige besondere Skulpturen aus dieser Erfahrung heraus entstanden.

«Am Anfang hatte ich schon Heimweh. Ich bin voller Farben und Sonne und liebe das Leben», sagt Victor Agudelo über seine Heimat Kolumbien. Die Sorgen dieses Landes haben ihn aber auch belastet, vor allem in der Zeit vor seiner grossen Krankheit. Nun, mit 60 Jahren, möchten die Mutter und die Schwester seiner Frau erstmals Kolumbien entdecken. Agudelo freut sich auf diese Reise und plant anschliessend im nahe gelegenen Dialoghotel «Eckstein» eine Ausstellung. Dort sollen nicht nur seine Skulpturen gezeigt werden, sondern auch Fotografien seiner Frau Patrizia: «Diese Ausstellung soll auch ein Danke an sie sein.»

Mit ihren Bildern hat sie viele seiner Werke, die verkauft oder verschenkt sind, festgehalten und ins beste Licht gesetzt.

Text: Beatrix Ledergerber