Im Zug wird man zur Schicksalsgemeinschaft

Im öffentlichen Verkehr

Im Zug wird man zur Schicksalsgemeinschaft

mit Simon Spengler, Zugfahrer aus Überzeugung

Wie alles auf der Welt ist auch die Frage nach Nähe und Distanz im Zug zunächst mal eine Klassenfrage. Ob sich fünf Quadratmeter Sitzfläche sechs oder acht Personen teilen, macht den Unterschied. Wer es sich leisten kann und Ruhe sucht, reist 1. Klasse. Nur hat der Weltgeist seine Tücke: Wenn im Waggon alle still vor sich hindösen oder in die Laptops tippen, nervt ein einziger Handy-Endlosquatscher viel gnadenloser, als wenn alle drauflosplaudern. Der wortgewandte und vielreisende alt Abt von Einsiedeln twitterte mal: «Willst du wirklich Krach, gehe am besten in den Ruhebereich.»

Als Pendler mit rund 35 000 Bahnkilometern im Jahr, die meisten in vollen und oft überfüllten Zügen auf der Pendler-Paradestrecke Bern–Zürich retour, bin ich froh um jeden Zentimeter Distanz. Am Morgen in eine lustige Senioren-ausflugstruppe zu geraten (wenn die SBB mal wieder Schnäppchenbillette verhökern, kann einem das auch in der 1. Klasse passieren), ist für mich der blanke Horror. «Hoi Lisi, wo isch denn de Sepp?» – «Was, chrank?» – «Oh nai!» – «Wie goots im de?» – «De Fritz öppe au?» – «Nai, de chunnt via Olte.» Und das über drei Sitzreihen hinweg von Wankdorf bis Altstätten, bis alle Gebrechen ausgetauscht, Freud und Leid geteilt sind. Ihnen tut’s ja sicher gut, für mich ist der Tag gelaufen. Nur schnatternde welsche Jung-Managerinnen unterwegs von Genève zum Meeting in Zürich können das noch toppen.

Trotz aller Sehnsucht nach Distanz kommt man sich beim Pendeln also nah. Man teilt in der zufällig zusammengewürfelten Menschengruppe im gleichen Coupé und Waggon intimste Momente. Im Zug habe ich, der ich seit meinem zehnten Lebensjahr pendle, schon so ziemlich alles erlebt: Da wird gelacht und geweint, gegessen und erbrochen, gespielt und gezankt, gehofft und gebangt, gezeugt und gestorben. Und die ewig gleiche Angst treibt alle um: «Schaffen wir den Anschluss noch?»

Ganz unfreiwillig nimmt der Pendler Anteil am Leben der Mitreisenden, und sei‘s nur durch gegenseitige Musterung. Eine Schicksalsgemeinschaft auf Zeit, bevor der Zug hält und sich die Passagiere wieder in alle Richtungen zerstreuen.

Pendeln ist also eine Lebens- und Charakterschule. Hier lernt man, alte Werte wie Anstand und Benehmen neu zu schätzen. Allen PW-Pendlern, die für sich allein und ungestört in ihrer Karosse jeden Morgen und jeden Abend auf der A1 im Stau stehen, kann ich nur sagen: «Das wahre Leben rollt an euch vorbei.»

Text: Simon Spengler