«Stellen Sie sich vor, was es für ein Baby bedeutet, wenn es mit dem Bildschirm eines Smartphones konkurrieren muss.» Die Kinderpsychiaterin Sylvia Menet weiss, wie entscheidend bedingungslose Zuwendung in den ersten Lebensmonaten eines Menschen ist. «Man muss auch in dieser Phase nicht bei jedem Pieps rennen, aber man muss immer präsent sein, um die Signale des Babys wahrnehmen zu können.»
Die Qualität der Bindung, die in diesen ersten Monaten aufgebaut wird, hat grosse Auswirkungen auf die gesamte Persönlichkeitsentwicklung. Entscheidend ist dabei auch die körperliche Nähe zum Baby. «In den ersten Monaten brauchen Babys den Körperkontakt, um ihren eigenen Körper zu spüren. Sie haben noch wenig eigenes Körperbewusstsein und können sich schlecht selbst regulieren. Im Körperkontakt überträgt sich die Entspanntheit der Bezugsperson auf das Kind. So können Kinder allmählich ein Gespür für den eigenen Körper aufbauen.»
Wenn ein Kind dann seine ersten selbständigen Schritte tut, wird das von den Eltern nicht zufällig als grosses Ereignis erlebt. «Nun macht das Kind eigene kleine Entdeckungsreisen. Es entwickelt sein Gespür für seinen Körperraum. Es kommt aber immer wieder zurück und kuschelt sich an seine Eltern. Bis es dann so zwischen drei und vier Jahren nicht mehr immer knuddeln will und Schamgefühle entwickelt. Allmählich beginnt das Kind, eigene körperliche Grenzen zu setzen.»
Während Kinder zwischen sieben und zehn Jahren die körperliche Nähe immer weniger suchen, wird der geistige Austausch – auch das eine Form von Nähe – immer wichtiger. Vergleichbar zum körperlichen Raum bildet sich nun der geistige Raum aus. In der Pubertät werden Kinder in beidem autonom. Und die Distanz, die so notwendigerweise entsteht, gilt es für Eltern auszuhalten, auch wenn sie immer noch wichtige Bezugspersonen bleiben.
Menet gibt keine Patentrezepte ab. Von einer Grundregel ist sie jedoch überzeugt: «Man muss die Signale der Kinder immer wahrnehmen und respektieren. Das gilt für sämtliche Phasen der Entwicklung. Selbst ein Baby kann zeigen, dass ihm ein Körperkontakt zu viel wird.»
Gleichzeitig hält Menet fest: «Auch Eltern und Bezugspersonen müssen ihre eigenen körperlichen Grenzen ernst nehmen. Es gehört zu den Aufgaben von Eltern, die Ablösung manchmal etwas zu forcieren. Damit werden sie auch zum Vorbild. Wenn Eltern selbst Grenzen in der körperlichen Nähe setzen, lernen Kinder, dass sie das ebenfalls tun dürfen und sollen.»
Menet hält es für wichtig, dass Eltern und andere Bezugspersonen sich untereinander austauschen: «Ein reiches und offenes familiäres Umfeld macht den Ablösungsprozess einfacher. Das beginnt ganz früh, wenn aus der Zweierbeziehung ‹Kind–Mutter› eine Dreierbeziehung ‹Kind–Mutter-Vater› wird. Gespräche mit anderen Eltern sind da sehr hilfreich oder auch Angebote von Beratungsstellen. Es ist oft bereits entlastend, wenn man seine Ratlosigkeit eingestehen und von seinen Problemen berichten kann.»