Zehn Mädchen stehen auf den Treppen zum Altarraum, der heute eine Bühne ist. Sie singen und werden dabei von einem Klavier begleitet, machen mit ihren Armen Bewegungen dazu. Der Anfang des Kindermusicals «Maria Magdalena». Vivien Siemes sitzt in der ersten Reihe, hinter ihr eine randvolle Kirche, vor ihr die Mädchen. Die Theaterpädagogin sitzt an der Kante ihres Stuhles, streckt den Rücken durch. Sie macht es ihren Schauspielerinnen vor: die Bewegungen mit den Armen, die Worte, die sie mitsingt. Ausdrucksstark und mit viel Energie wirkt sie verbunden mit den Kindern, die sich an ihr orientieren: anfangs noch stark, im Verlauf des Spieles seltener, und doch immer wieder.
Vivien Siemes überlegt, dass sie in solchen Momenten am ehesten eine «Ermöglicherin» ist, wie ein «Kitt, der alles zusammenhält». Gleichzeitig versteht sie sich als «Teil vom Ganzen, der nicht wichtiger ist». Sie möchte Kindern einen Raum eröffnen, in dem sie Selbstwirksamkeit erfahren und erleben: «Niemand kann es alleine machen, aber niemand muss es auch alleine machen.» Gemeinschaft also. Auch im Musical «Maria Magdalena» wird diese Gemeinschaft unter den Spielenden spürbar. Nach und nach interagieren die Mädchen freier miteinander, schieben sich auf der Bühne herum, geben sich im Durcheinander das Mikrophon weiter. «Es muss gelingen, in einen Flow zu kommen», beschreibt Vivien Siemes, denn: «Ich spüre, dass sich Kinder das häufig nicht gewohnt sind, Nähe zum anderen zuzulassen.»
Die Berührung zwischen Jesus und Maria von Magdala wird in diesem Musical kurz ausfallen, eher verhalten, fast beiläufig. «Bei Kindern lasse ich es tatsächlich zu, dass sie distanzierter spielen.» Bei Jugendlichen allerdings würde Vivien Siemes gerade diesen Moment thematisieren: Wollen wir überhaupt ein Stück spielen, bei dem Nähe und Berührungen eine Rolle spielen? Wer kann sich vorstellen, einen solchen Part zu übernehmen – und wer müsste dazu das Gegenüber sein? Oft seien das zunächst auch Gespräche mit einzelnen Darstellenden, ehe das Thema dann in der ganzen Runde besprochen werde.
Das Kindermusical nähert sich einem Höhepunkt, einem unerwarteten, offenbar auch für die Spielenden. Aus dem gut einstudierten Wiedergeben des Textes, Satz für Satz, entsteht plötzlich ein Moment, in dem Maria Magdalena eine Kraft entwickelt. Ganz bei sich, ruhig und mit einer Klarheit wirft sie dem Judas da diesen einen Satz entgegen. Hatte das Mädchen bislang versucht, Maria Magdalena zu spielen – jetzt ist es anders: Sie verkörpert sie. Begeisterter Applaus vom Publikum.
Nach dem Schlussapplaus wird es dann für die Mädchen heissen, all diese Gefühle wieder loszulassen und «wieder in die Distanz zu gehen». Die Kinder würden das nicht selten «wie einen Trauerprozess» erleben, weiss Vivien Siemes. «Ich sage dann immer: Jetzt ist das eine fertig, aber das ist der Moment vor dem nächsten Mal.»