Seelsorge zu beanspruchen und darin von Sehnsüchten oder von spiritueller Not zu erzählen, bedeutet, verletzlich zu sein. Wer sich seelsorgerlich begleiten lässt, hat deshalb das Recht auf höchste Achtsamkeit der Seelsorgenden. Begleitung im Porzellanladen der Seele bedingt Zurücknahme, Vorsicht und schützende Distanz – und die Verantwortung dazu liegt bei den Seelsorgenden. «Distanz zu halten, bedeutet, dem anderen Raum für sein Eigenes zu lassen, ihm niemals in den letzten Winkel seiner inneren Festung zu folgen», so schreibt der Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri. Jede Person, die Seelsorge beansprucht, hat das Recht, dass ihre Würde geschützt wird.
Gerade im Zusammenhang mit Nähe und Körperlichkeit gilt es, den privaten vom professionellen Kontext klar zu unterscheiden. Was in einer privaten Beziehung völlig selbstverständlich ist, kann in einem seelsorgerlichen Abhängigkeitsverhältnis grenzverletzend sein. Der Kompass für achtsame Seelsorge ist immer auch rollenklares Verhalten der Seelsorgenden. Und zudem Taktgefühl! Wo Menschen sich mit existenziellen Fragen anvertrauen, haben sie den berechtigten Anspruch auf ein Gegenüber mit Fingerspitzen- und Taktgefühl. «Die Kunst des Taktes liegt darin, das Bedürfnis des anderen nach Selbstschutz und innerer Balance wahrzunehmen und zu respektieren», zeigen sich der Psychotherapeut Günter Gödde und der Erziehungswissenschafter Jörg Zirfas in ihrem Buch «Takt und Taktlosigkeit» überzeugt.
Seelsorgende sind in einer Machtposition – status- oder funktionsbedingt. Je mehr Macht-aspekte verdrängt und verwischt werden, desto mehr kann Macht rund um Nähe entgleisen. Um Macht rückzubinden und in Machtpositionen nicht aus dem Takt zu fallen, braucht es die Einbettung der Seelsorgenden in ein Team mit klarem Rahmen. Oder, um ein Bild zu gebrauchen: Taktvolle Bewegung gelingt dort am besten, wo Musik hörbar ist. Heisst: Um als Seelsorgende einen gemeinsamen Rhythmus zu finden, sind transparente Qualitätsstandards, Resonanz und zeitnahes Feedback von Team und Leitung wichtig. Dies baut auch Schwellen ein, für jene Minderheit, die keine redliche Seelsorge anstrebt.
Täter und Täterinnen gehen immer subtil und strategisch vor. Sie tasten sich taktierend vor – suchen Nähe, bevor sie taktlos die Grenzen zunächst der Privatsphäre, dann der Intimsphäre überschreiten. Genau deshalb muss Prävention strukturell und flächendeckend verankert sein – nicht individuell und lokal. Täter und Täterinnen suchen sich ihre Tatorte – und Kirchen lassen sie gewähren. Kirchen müssen vorausschauend sowie systematisch Schwellen setzen, damit Manipulation erschwert wird. Grenzziehung und Qualitätssicherung rund um Nähe ist eine organisationale Aufgabe – keine individuelle. Und schon gar nicht die Aufgabe jener Menschen, die sich Seelsorgenden anvertrauen.