Das Wasser findet seinen Weg

Editorial

Das Wasser findet seinen Weg

Sorgen können wie grosse Steine den Weg blockieren. Da kann es helfen, sich am Wasser ein Beispiel zu nehmen.

Im Sommer gibt es für mich nichts Schöneres, als ins Wasser einzutauchen und zu schwimmen. 

Wasser beruhigt mich. Ich mag es, wenn es beim Schwimmen meinen Körper umfliesst und angenehm kühlt. Ich freue mich, dass die Sihl in wenigen Schritten von meinem Zuhause aus erreichbar ist. Ich könnte stundenlang zusehen, wie sie sprudelt und wirbelt. Am oder im Wasser beginnen auch meine ­Gedanken zu fliessen, und manches klärt sich ganz von selber.

Vor einiger Zeit belastete mich eine ungelöste Situation, und ich überlegte hin und her, wie ich sie lösen könnte. Ich hatte aber keinerlei Einfluss darauf und rannte daher innerlich ­dauernd an dieses Hindernis an – was mich viel Kraft und Substanz kostete. Bis ich am Wasser sitzend plötzlich dachte: der Fluss verschiebt die grossen Steine nicht aus seinem Bett, um weiterzukommen. Das Wasser stellt die Steine, die da sind, nicht in Frage. Es nimmt sie an und entwickelt um sie ­herum einfach eine grössere Sprudelkraft. Aber es fliesst.

Plötzlich war mir klar: ich kann dieses Problem nicht lösen – aber ich muss es auch nicht! Ich kann es annehmen und ­aufmerksam im Auge behalten, um gut und liebevoll zu reagieren, wenn etwas sich bewegt. Meine innere Kraft muss ich aber daran nicht aufbrauchen, die darf ich wieder fliessen lassen – und das Leben trotz der ungelösten Frage geniessen.

Seit diesem Moment bin ich wieder innerlich frei. Und immer wieder, wenn eine Situation mich belasten will, denke ich ans Wasser und sage mir: annehmen und fliessen lassen! Nicht immer klappts auf Anhieb, manchmal braucht es einen ­längeren Schwumm oder Spaziergang der Sihl entlang. Das spielt auch keine Rolle. Früher oder später fliesst es dann wieder. 

Text: Beatrix Ledergerber