Die Zukunft liegt in der Vergangenheit

Editorial

Die Zukunft liegt in der Vergangenheit

Ferien eröffnen neue Sichtweisen. Nicht nur auf touristische Sehenswürdigkeiten.

Ich bin zwar noch nie in die Anden gereist. Aber auch eine gute Ferienlektüre kann ganz schön die Blickrichtung verändern. Kürzlich las ich einen Text über die weltweit nahezu einmalige Zeitvorstellung der Aymara, eines indigenen Volkes im Hochland Boliviens. Für sie liegt die Vergangenheit vor ihnen, die Zukunft hinter ihnen.

Wenn also eine Aymara erzählt, was sie gestern erlebt hat, dann zeigt sie nach vorne. Will heissen: Die Vergangenheit ist das, an dem wir uns orientieren, weil wir es gesehen haben. Spricht ein Aymara von dem, was in zwei Jahren sein wird, weist er achselzuckend hinter sich. Die Zukunft liegt unsichtbar «hinter» uns. Daher weigern sich die meisten Aymara, über die Zukunft zu reden, weil nichts oder nur wenig Sinn­volles darüber gesagt werden kann.

Wir hingegen stellen uns beim Blick nach vorne die Zukunft vor. Wir stecken uns Ziele, die wir erreichen wollen, malen uns aus, was wir noch erleben möchten, träumen von einer schönen Zukunft – oder ängstigen uns vor ihr.

Mich hat dieser Text ermuntert, in der ruhigeren Ferienzeit auch mal den Blick zurück zu wagen – oder, wie die Aymara ­sagen würden, nach vorn: jedenfalls in die Richtung, in der ich tatsächlich etwas erkennen kann. Wo komme ich her? Was hat mich geprägt? Welche Rolle nehme ich automatisch immer wieder in Beziehungen ein, weil sich das in meiner Kindheit so eingespielt hat – heute aber womöglich gar nicht mehr nötig, ja sogar ein Hindernis ist?

Es kann die Ferienreise sein, ein gutes Gespräch oder eine Lektüre: vielleicht ja der eine oder andere Büchertipp von Theologie-Studierenden in diesem forum. Und schon eröffnet sich ein Blickwechsel, der aus dem gewohnten Tramp herausholt und damit neue Lebenswege ermöglicht.