Sven kauert hinter den Schwertlilien und jätet. Eline, Ronja und Mattia sortieren Pflanzentöpfe in der Garage. Celia und Cecile bereiten in der Küche die Salate für die Grillade vor. Heute ist WG-Tag in der Hacienda José, wie das ehemalige Josefheim in Glanzenberg bei Dietikon von seinen Bewohnenden genannt wird. Bis vor knapp zwanzig Jahren bewohnten Karmelitinnen die Klosteranlage. In den zwei benachbarten Gebäuden war das Kinderheim untergebracht, welches die Klosterfrauen führten.
Im zweiten Stock versucht Artem, einen grossen Wäscheständer in einen Wandschrank zu versorgen. Einmal im Monat arbeiten die 19 Bewohnenden der Wohngemeinschaft gemeinsam rund drei Stunden in Haus und Garten. Danach gibt es ein gemeinsames Essen und eine Sitzung.
Verlängerte Zwischennutzung
Heute werden Elin und Ronja die Sitzung leiten. Aber vorher fläzen sie sich zu Nea auf die Picknickdecke unter die Buche des riesigen Gartens. Zusammen mit Mattia sind sie die Kinder der WG. Elin ist mit 17 Jahren die Älteste, Ronja ist 16 Jahre alt, Nea 15 und Mattia ist mit 13 der Jüngste. Seit ihrer Geburt leben die vier in der Wohngemeinschaft. Während der Mittelstufe haben sich die Mädchen als Schwestern bezeichnet, heute findet Elin die Bezeichnung nicht mehr passend, aber auch Freundin beschreibe das Verhältnis zueinander nicht treffend: «Wir sind so etwas dazwischen.»
Johanna und Davide sind die Eltern von Ronja und Mattia. Elin und Nea sind die Töchter von Sven und Karin. Vor 18 Jahren suchten die damals noch kinderlosen Paare eine gemeinsame Bleibe und fanden die Klosteranlage, die einer Stiftung gehört. Nach der Zwischennutzung durch die WG hätte die Anlage einem Neubau weichen sollen. Dem Stiftungsrat gefällt das Wohnprojekt und die Zwischennutzung dauert nach vielen Vertragsverlängerungen bis heute an. «Am Anfang habe ich bedauert, dass unsere Kinder sich nicht an die WG-Zeit würden erinnern können», sagt Karin «heute kennen sie nichts anderes.»
Viel über und in Beziehungen gelernt
Im Gegensatz zu ihren Eltern haben die vier Kinder das WG-Leben nicht gewählt. «Wir kennen nichts anderes und können nicht vergleichen, aber die WG hat fast nur gute Seiten», sagt Elin. Obwohl gerade sie gefordert ist mit den vielen Mitbewohnenden. Elin ist im Autismus-Spektrum. Viele Reize und wenig Rückzug hätten früher zu sogenannten Meltdowns geführt. «Dann geht nichts mehr, alles ist zu viel», erklärt Nea die Zusammenbrüche ihrer grossen Schwester. Darum haben die Eltern einen Kochherd in die ehemalige Blumenküche des Klosters eingebaut, um dort im Kreis der Familie zu essen. «Ich habe in dieser Wohnform viel über und in Beziehungen lernen können, was Menschen im Autismus-Spektrum schwerfällt», sagt Elin. Nea schätzt, dass sie neben den Beziehungen zu ihren Eltern viele andere Verbindungen habe knüpfen können. Von einer ehemaligen Mitbewohnerin, die ihre Babysitterin war, hütet sie heute die Kinder. «Man gewöhnt sich an die Abschiede, die es immer wieder gibt», sagt Ronja, sie könne sich inzwischen freuen, wenn eine Mitbewohnerin einen neuen Schritt im Leben wage.
Der Grundriss des ehemaligen Klosters ist verzweigt. Es gibt zwei Treppenhäuser, Zwischenetagen und sehr viele Zimmer. Die beiden Familien konnten während der Jahre ihren Platzbedarf anpassen und weitere Zimmer mieten. Mattia etwa bewohnt seit einiger Zeit ein Zimmer in einiger Distanz zur Familie. Auch Elin ist in ein Zimmer ausserhalb der familiären Räumlichkeiten gezogen.
Kein Stau in der Küche
Wer zum ersten Mal auf Streifzug durch die Gross-WG geht, läuft Gefahr, sich zu verirren. Die Küche im Parterre ist nicht grösser als in einer Vierzimmerwohnung. Stau gebe es zu Essenszeiten deswegen nicht, sagt Ronja: «Die einen essen früh, andere spät, manche gemeinsam, manche allein.» Wenn es ihr zu viele Leute hat, zieht sie sich mit einem Snack in ihr Zimmer zurück.
In der petrolblau gestrichenen Stube mit Mobiliar aus den Sechzigern stehen drei Kühlschränke wie bestellt und nicht abgeholt. Die brauche es, damit alle ihre eigenen Fächer für die Lebensmittel hätten, sagt Sven während der Hausführung. In der Waschküche steht eine einzige Waschmaschine, dafür gibt’s viel Platz zum Aufhängen. Einige Räume sind nur durch Vorhänge abgetrennt. Da und dort gibt es Relikte aus der Klosterzeit: ein Marienbild, eine Glocke mit Strick zum Ziehen und die Kapelle, wo neben der Orgel ein Vertikalseil für Akrobatik von der Decke hängt.
Wer ein Plakat mit den Regeln des Zusammenlebens sucht, wird nicht fündig. Zentral für die Organisation ist der Ämterplan: während einer Woche ist jemand zuständig für die Sauberkeit in der Küche, jemand für den Einkauf der Grundnahrungsmittel, für das Entsorgen, für den Abfall und den Kompost … «Wir lassen die Leute leben, wie sie sind, aber die Erledigung der Ämter ist uns sehr wichtig», sagt Karin und meint es ernst.
Zeitsparend und günstig
Knapp zwei Stunden pro Monat geben die Ämter zu tun, sagt Sven, der als Hauptmieter die Hauptverantwortung trägt. Chef der WG will er aber nicht sein. Das Zusammenleben werde gemeinsam demokratisch geregelt, müsse aber auch praktisch sein. Will heissen: Entscheide werden gefällt, nicht alles wird ausdiskutiert. Wem etwas nicht passt, der meldet sich zu Wort. Das WG-Leben sei nicht nur zeitsparend, sondern auch günstig. Dieser Grund darf aber nicht den Hauptausschlag geben, wenn sich eine neue Mitbewohnerin für ein Zimmer bewirbt.
Zuerst hören sich die Bewohnenden in ihrem Bekanntenkreis um. Denn auf ein Inserat melden sich viele Menschen, weil die Miete günstig ist, und das bedeutet Aufwand für die WG. Die Interessentinnen werden an einem WG-Tag zum Essen eingeladen und müssen sich dann den Fragen der Bewohnenden stellen. «Es gibt Menschen, die sich gut verkaufen können und sich als wenig begabt für das gemeinschaftlichen Leben entpuppen. Andere sind bei der Vorstellungsrunde eingeschüchtert, stellen sich im Alltag aber als wertvolle Mitbewohnende heraus», sagt Karin. Am Schluss entscheidet die WG gemeinsam. Seit einiger Zeit dürfen auch die Kinder mitbestimmen. «Wir haben in all den Jahren ein Gefühl entwickelt, wer passen könnte», sagt Elin. Dabei sei es wichtig, auf eine gute Mischung zu achten: Wie oft ist jemand zu Hause? Welche Hobbys hat sie? «Bei der Wahl geht es nicht darum, eine Freundin zu suchen, sondern jemanden, der zur Gemeinschaft passt», sagt die 17-Jährige.
Gut zuhören
Unterdessen haben sich Elin und Ronja an einem Tisch auf der Wiese für die Sitzungsleitung in Position gebracht. Die anderen sitzen in einem Stuhlkreis auf der Wiese des grossen Gartens. Eigentlich ist der WG-Tag obligatorisch für alle. Aber heute fehlen einige – Terminkollision. Elin kontrolliert die Ämterliste und mahnt die unerledigten Arbeiten an. Ihr ist aufgefallen, dass die neuen Bewohnenden, die nicht mehr viel älter sind als sie, es mit den Arbeiten manchmal nicht so genau nehmen. «Sie sind teilweise sehr beschäftigt mit sich selbst», lautet Elins Diagnose.
Das bestätigt auch Karin. Sie weiss noch nicht recht, was sie von der Selbstfürsorge der Millennials halten soll. «Bei uns muss man die anderen einfach leben lassen», sagt Karin. Toleranz sei das Wichtigste. «Bewohnende mit extremen Haltungen würden zu einer Belastung für die WG.» Ihr Mittel gegen Miss- und Unverständnis ist gut zuhören und sich innerlich nicht zurückziehen. Trotzdem habe sie immer wieder mal den WG-Koller und auch schon die Koffer gepackt.
Mit nur einem Rucksack sind vergangenes Jahr zwei Jugendliche aus der Ukraine in die WG eingezogen. Sven hat sich der Achtzehnjährigen aus Mariupol angenommen. Als Erstes brauchten sie Kleider und Alltagsdinge, dann hat ihnen Sven bei der Jobsuche geholfen und im Kontakt mit den Ämtern. Nach einiger Zeit sind sie weitergezogen in die Niederlande. Seit Februar bewohnt Artem ein Zimmer im obersten Stock. Er ist aus Kiew in die Schweiz geflohen.
Elin kommt zum nächsten Traktandum: Niggi hat detaillierte Beschreibungen für alle Ämter geschrieben. Er schlägt vor, sie Punkt für Punkt durchzugehen. Das wird abgelehnt – zu zeitaufwändig. Die Beschreibung wird in der Küche aufgehängt und wer Verbesserungsvorschläge hat, vermerkt diese. Nächstes Traktandum. Sven braucht mehr Zeit, um das Tagesanzeiger-Magazin zu lesen. Er möchte die Hefte zwei Monate behalten, bis sie ins Altpapier kommen. Alle sind einverstanden. Silja möchte einen Schlitz in die Regenrinne machen, um ihre Tomatensetzlinge mit Regenwasser zu giessen. Auch das geht klar.
Elin und Ronja lassen zum Schluss die verwaisten Wäschestücke in der Runde zirkulieren – diesmal hat es zum Glück keine Unterwäsche dabei. Die Sitzung ist fertig. Elin bringt selbstgebackenen Cheesecake für alle und die grosse Wahlfamilie schlemmt an diesem warmen Sommerabend auf der Wiese der Hacienda José.