Die Szene hat sich für immer im Gedächtnis meiner Mutter eingebrannt: Es ist morgens kurz nach sieben. Vom Fenster aus sieht sie zu, wie ich mich den Hügel runter stürze. Ich bin spät dran, sehr spät. Der Schulbus steht bereits an der Haltestelle. Und fährt tatsächlich los. Dadurch abgelenkt hat meine Mutter mich für einen kurzen Moment aus den Augen verloren. Bis ich plötzlich wild gestikulierend hinter dem fahrenden Bus auftauche. Und dann die Erlösung: Der Bus stoppt und lässt mich einsteigen.
Dieses Bild hat sich bei meiner Mutter deshalb so eingeprägt, weil es sich praktisch täglich wiederholt hat. Verantwortlich für meinen notorischen Morgenspurt war meist eine abgefahrene Diskussion am Morgentisch, die nur ich allein zu Ende bringen konnte. Und dann hiess es: Renn, Junge, renn!
Ich lebe auf den letzten Drücker solange ich mich erinnern kann. Sobald ich den Schulbus ultraknapp erreicht hatte, wartete ein Gedicht darauf, auswendig gelernt zu werden, weil um acht eine mündliche Prüfung angesetzt war. Wahrscheinlich bin ich nur deshalb Journalist geworden, weil ich mich instinktiv nach einem Beruf umsah, bei dem Auf-den-letzten-Drücker-Arbeiten zur DNA gehört und man unter Journis damit sogar angeben kann.
Dank einer meiner Töchter habe ich seit kurzem ein Wort für mein chronisches Fremdleiden: Prokrastination. Weshalb Fremdleiden? Weil darunter vor allem meine Umgebung leidet. Ich selbst fühle mich meist ziemlich vögeliwol, wenn die Deadline droht. Das Journalistenwort für Abgabetermin entfaltet bei mir sogar eine lustvolle Scheindramatik. Und so habe ich, ein paar Minuten bevor dieser Text die Deadline kratzt, immer noch völlig die Ruhe weg.
Jetzt mal ganz entspannt: Meine ewige Prokrastiniererei hat mir auch wertvolle Einsichten vermittelt. Ich habe gelernt, dass dringende Notwendigkeit auch enorme Kräfte und überraschende Kreativität freisetzen kann. Ich nenne es das Gesetz der Superheldenkraft: Sie kommt, wenn wir sie brauchen. Je dringender, desto stärker. Wir werden selten auf Vorrat mit dem Besten versorgt, was wir zu bieten haben.
Manche nennen eine solche Haltung gottsträfliche Leichtsinnigkeit – ich glaube, es ist Urvertrauen. Und deshalb bin ich meiner Mutter ganz einfach dankbar, dass sie mich so entspannt als «Last-Minute-Boy» hat aufwachsen lassen. Ich habe gelernt, mich mit meinen Eigenarten zu arrangieren, habe mich von meinen Schwächen nicht einschüchtern lassen und musste für mein Spät-dran-sein selbst die Verantwortung übernehmen. Vor allem aber: Als 14-Jähriger war ich endlich der Schnellste im ganzen Schulhaus.