Pilgern wie die Heiligen

Reportage

Pilgern wie die Heiligen

Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula verbinden der Legende nach ferne Orte wie Ägypten mit Zürich und dem Glarnerland. Der Felix-und-Regula-Pilgerweg tut dies ebenso. Auf den Spuren einer Geschichte, die bis heute wirkt.

Umgeben von schroffen Felswänden, mitten im grünen Gestrüpp, fliesst frisches Wasser aus zwei Quellen. Kein öffentlicher Verkehr gelangt hierhin, nur eine Luftseilbahn weiter vorn beim Hotel Tödi führt in die Höhe. Hier im sagenumwobenen Tierfehd beginnt der Felix-und-Regula-Pilgerweg. 

«Ich wusste immer, dass hier die Felix-und-Regula-Quelle ist, es gibt seit jeher eine Tafel, die darauf hinweist. Aber es geriet bei der Bevölkerung in Vergessenheit», sagt Ursi Zweifel. Die in der Nähe aufgewachsene Ur-Glarnerin arbeitet als Hüttengehilfin, ist Yoga- und Schneesport-Lehrerin und im Vorstand des Vereins «Felix und Regula Pilgerweg» als Wanderleiterin aktiv. «Wir haben das Bewusstsein für diesen Ort zu neuem Leben erweckt.» Vereinspräsident Willi Hunziker ergänzt: «Das Visionäre kam von unserem damaligen Pfarrer Josef Kohler. Er wollte den spirituellen Schatz dieses Ortes heben. Wir haben es mit ihm umgesetzt.» 

Blick nach Zürich und in die Alpen

Heute stehen an dieser Stelle zwei Bronzefiguren auf einem kleinen Podest. Die eine schaut in die Alpen, die andere nach Zürich. Gestaltet wurden sie vom Künstler Fredy Ambroschütz aus Jona. Hansruedi Simitz, ebenfalls im Vorstand, erklärt: «Die Figuren stellen Felix und Regula dar. Sie kamen laut der Legende über die Furka und den Klausenpass vom Wallis her. Wie das Wasser aus den beiden Quellen gingen sie von hier aus gemeinsam nach Zürich.» 

Diesem Weg des Wassers und der beiden Heiligen folgt der Pilgerweg. Wir wandern durch Felder und Wiesen, leicht hinauf und wieder hinab, vorbei am Schreyenbachfall, der gerade ungewöhnlich viel Wasser führt. «Wenn es regnet, kann der Bach hier so mächtig werden, dass man ihn kaum mehr überqueren kann», berichtet Willi Hunziker. «Im ersten Pilgerjahr war er so reissend, wir mussten den Leuten einzeln über den Bach helfen. So etwas bleibt unvergesslich!» Fast jedes Jahr führt der Verein seither eine gemeinsame Pilgerwanderung durch. Das Wetter sei natürlich nicht immer schön. «Aber wenn es mal regnet, dann gibt das eine besondere Atmosphäre. Es entsteht ein besonderes Gemeinschaftsgefühl, wenn alle mit Pelerine oder Regenschirmen unterwegs sind!»

2013 wanderte die erste Pilgergruppe mit 55 Glarnerinnen und Glarnern bis Zürich: 70 Kilometer zu Fuss in drei Tagesetappen bis zum Kloster St. Otmarsberg, am vierten Tag bis  Schmerikon und von dort mit dem Schiff bis zum Bürkliplatz. 2015 wurde der Verein «Felix und Regula Pilgerweg» gegründet, der neben den Pilgerwanderungen jedes Jahr einen ökumenischen Gottesdienst im Tierfehd mitorganisiert. «Das ist Hühnerhaut-Feeling, wenn bei der Quelle hinten die Jodel- und Alphornklänge von den Felswänden widerhallen. Die Konfirmanden bedienen den Grill, alle Generationen von Kleinkindern bis zu 90-Jährigen sind mit dabei», sagt Willi Hunziker.

Ökumene als Hauptmotivation

Das ökumenische Miteinander war bei der Umsetzung der Pilgerweg-Idee eines der Hauptanliegen des inzwischen pensionierten Pfarrers Josef Kohler. «Für mich ist es von ganz zentraler Bedeutung, dass der christliche Glaube durch ein geschwisterliches Zeugnis in unsere Gegend gekommen ist und nicht durch irgendwelche Verfügung von oben oder eine Macht von aussen», sagt der nun in Stäfa lebende Initiator des Pilgerweges. Er hatte damals die reformierte Ursi Zweifel persönlich zum Mitmachen im Vorstand angefragt. Auch für Hansruedi Simitz ist die Ökumene eine entscheidende Motivation. «Ich finde es wichtig, dass wir als Katholiken und Reformierte etwas gemeinsam machen. Und dann hat es erst noch mit Heiligen zu tun, mit denen man in reformierten Kreisen früher nicht viel anzufangen wusste», sagt er.

Beim Hotel Tödi steht ein neuer Info-Pavillon. Er stellt nicht nur die beeindruckende Geologie, Tier- und Pflanzenwelt dieser Gegend vor, sondern gibt auch Einblick in die Geschichte der Wasserkraftwerke, die mit Stau- und Speicherseen, Tunneln und Wasserleitungen seit 1960 immer wieder für Arbeitsplätze gesorgt haben. Die letzte Maschine des neuen grossen Pumpspeicherwerks gibt seit 2017 Strom. Durch die Bauerei wurde das Tierfehd mit Materiallagern überstellt. «Im Rahmen der danach nötigen Renaturierung durch die Axpo und die Gemeinde wurde 2018 die Felix-und-Regula-Quelle, die fast zugewachsen war, wieder sichtbar gemacht und der Grillplatz erstellt», erzählt Hansruedi Simitz. 

Im Info-Pavillon wird auch der Felix-und-Regula-Pilgerweg ausführlich vorgestellt. Für den Verein eine Überraschung: «Wir hatten gar nicht mitbekommen, dass dieser Pavillon erstellt wird», erzählt Willi Hunziker. «So konnten wir uns auch nicht dafür einsetzen, dass der Pilgerweg erwähnt wird. Umso schöner, dass er inzwischen so bekannt ist, dass dies von selbst geschehen ist.» 

Weiter geht es, immer leicht bergab. Wo sich der Weg verzweigt, klebt Willi Hunziker ein neues Felix-und-Regula-Pilgerweg-Zeichen an die Stelle der alten, verblichenen Folien, die er zuerst sorgfältig abnimmt. «Mich berührt die Strahlkraft von Menschen, die bis ans Äusserste gehen – so wie Felix und Regula, die für ihren Glauben starben», erklärt er die Motivation für sein Engagement. 

Vor uns erhebt sich ein imposanter, fast allein stehender Berg, mit dem eigenartigen Namen «Selbsanft». Diese Ebene mit dem Blick auf den Felsen habe Eveline Hasler eindrücklich beschrieben in ihrem Buch «Riese im Baum»,  erzählt Ursi Zweifel. Auch einen Krimi gebe es, der in dieser Gegend spiele, in der Zeit der grössten Gebirgsbaustelle Europas – während des Baus des Pumpspeicherwerkes. 

Natur, und auch Kunst

Bald kommt das Dorf Linthal in Sicht. «In der Kirche, wie auch an verschiedenen anderen Orten gibt es auf unseren Pilgerwanderungen jeweils einen spirituellen Impuls», erzählt Ursi Zweifel. Seit 2016 schmücken Keramikplatten von Schwester Caritas, einer Dominikanerin aus Cazis, die hintere Wand der katholischen Kirche Linthal. Sie stellen in vier Bildern die Legende von Felix und Regula dar, von der Rekrutierung von Felix für das römische Heer in Theben bis zur Enthauptung der Geschwister in Zürich. In der Mitte hat Fredy Ambroschütz ein Reliquiar geschaffen: ein gegen oben offener Holzkreis umschliesst einen Blutstropfen in Keramik, der je eine Reliquie von Felix und Regula enthält. Sie waren ein Geschenk des Bischofs von Chur. Eine ausführliche Bildbeschreibung mit einem Gebet der koptischen Kirche liegt auf und führt in die Meditation ein. 

Weshalb ausgerechnet ein koptisches Gebet? Felix und Regula gehörten der Legende nach zur Thebäischen Legion. Sie stammten also wie die koptische Kirche aus Ägypten und sind deshalb auch den Kopten heilig. Seit der ersten Pilgerreise werden daher immer auch koptische Christen zur Pilgerfahrt eingeladen. «Wir haben eine Ikone von Felix und Regula in unserer Kirche im Lindauer Ortsteil Grafstal aufgestellt», sagt Pater Isidor, der bei den Benediktiner-Mönchen in Einsiedeln wohnt und für die orthodoxen Kopten in der Deutschschweiz zuständig ist. «Wir Kopten sind immer bei der Prozession der Orthodoxen am Felix-und-Regula-Fest in Zürich mit dabei, und wer kann, pilgert auch immer wieder gerne durchs Glarnerland.»

Begonnen hatte die kurze Pilgeretappe in der wilden Natur. Zum Schluss erfrischen wir uns in Linthal im Café des Linthparks, wo die Glarner Vergangenheit als ein Tal von Fabrikarbeitenden in Webereien immer noch sichtbar ist. Nebenan fliesst das Wasser von der Felix-und-Regula-Quelle in Richtung Zürich. 

Text: Beatrix Ledergerber