Am 1. Mai stürzte mitten im kolumbianischen Regenwald ein Kleinflugzeug ab. An Bord befanden sich drei Erwachsene und vier Kinder. Die Erwachsenen kamen beim Absturz ums Leben – von den Kindern aber fehlte lange jede Spur. Indigene, Soldatinnen und Soldaten bildeten gemeinsame Suchmannschaften und durchkämmten den Dschungel. Die Aussichten waren schlecht. Doch nach über 40 Tagen kam über Funk das erlösende Codewort: «Wunder!» Alle vier Kinder fand man lebendig. Handelt es sich bei dieser Begebenheit um ein echtes Wunder? Wohl kaum. Hier wurden keine Naturgesetze ausser Kraft gesetzt. Was geschah, ist rational erklärbar. Und doch: Ich staune über die Ausdauer und den Einsatz der Menschen, welche die Kinder nicht aufgeben wollten. Was sie taten, war wunderbar.
Eine andere Art von Wunder fordert stärker heraus. Am Marienwallfahrtsort Lourdes wurden bisher etwa 30’000 Heilungen bekannt. Die katholische Kirche erkennt 70 davon nach strenger Prüfung durch unabhängige Ärztinnen und Ärzte als eigentliche Wunder an. Für diese Heilungen gibt es nach aktuellem Stand der Wissenschaft keine Erklärung – auch wenn sich dieser Stand schnell ändern kann.
Schon die Bibel erzählt von zahlreichen wundersamen Begebenheiten: Das Volk Israel zieht trockenen Fusses durch das Rote Meer. Jesus verwandelt Wasser zu Wein. Lazarus wird von den Toten erweckt. Oft wird in der Schrift die vertraute Ordnung der Welt durchbrochen, scheint Gott in den Lauf der Dinge einzugreifen.
Die Erkenntnisse der Literatur- und Naturwissenschaften bieten dafür schlüssige Erklärungen an: Wundererzählungen sind ein Mittel, um etwas von Gott auszusagen; Dämonenaustreibungen eine antike Frühform von Psychotherapie; Heilungen eine Folge des Placebo-Effekts. Man mag es begrüssen oder bedauern: Solche Erklärungen entzaubern die Welt zunächst. Kann man sich dennoch wundern?
Interessanterweise hatte Jesus selbst ein nüchternes Verhältnis zu Wundern. Er kritisiert: «Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht.» (Johannesevangelium 4,48) Was Jesus auch Wundersames getan haben soll – nie war eine seiner Taten eine blosse Sensation, die Übermacht signalisieren und Glauben wecken wollte. Immer ging es ihm darum, Not zu lindern und zu zeigen, wie die Welt sein kann, wenn Menschen auf Gott vertrauen: Dann werden alle satt, dann haben Angst und Sorgen keine Macht mehr, dann hat die Gewalt ein friedliches Ende.
Ich verstehe mich als aufgeklärter Mensch. Die Erkenntnisse der Wissenschaften faszinieren mich. Je mehr ich über diese Welt lerne, umso mehr staune ich aber auch. Ob ich dann die Milchstrasse, eine Spontanheilung oder die Retterinnen und Retter in Kolumbien anschaue: Ich wundere mich gleich doppelt – über ihr Dasein und darüber, dass ich sie schön und erstaunlich finden kann. Und mit der Lyrikerin Hide Domin staune ich gern und voll Dankbarkeit: «weil das Wunder immer geschieht / und wir ohne die Gnade / nicht leben können».