Kurz bevor ich diese Zeilen verfasste, stand am 10. September 2023 morgens auf der Webseite der Schweizer Bischofskonferenz folgende Nachricht: «Kirchenrechtliche Ermittlungen zum Verdacht auf sexuelle Übergriffe und deren Vertuschung durch Mitglieder der Schweizer Bischofskonferenz». Ob und wie diese Nachricht mit der Veröffentlichung des «Berichtes zum Pilotprojekt zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts» verbunden war und ist, die am 12. September 2023 erfolgte, wird sich vermutlich bald zeigen. Welche Konsequenzen aus diesen Ermittlungen erwachsen, und wann diese mitgeteilt werden, lässt sich hingegen nicht absehen.
Eine solche Situation mit vielen unbekannten Hintergründen, Details und Dynamiken, ist das täglich Brot all jener, die sich mit dem Missbrauch und seiner Vertuschung in der katholischen Kirche beschäftigen. Es ist geradezu ein Kennzeichen dieser Thematik, dass vieles im Dunkeln liegt, und dass aufgrund der komplexen Sachlage, der vielfältigen Verantwortlichkeiten und der geschichtlichen Abläufe oft nicht einmal klar ist, wer Licht in dieses Dunkel bringen könnte und originär müsste. Insofern spiegelt der Bericht zum Pilotprojekt und die Nachrichten, die ihn schon im Vorhinein begleiteten, das wider, was sich bei ähnlichen Gelegenheiten in der Vergangenheit immer wieder abgespielt hat: grosse Aufregung, anhaltende Nervosität und nebulöse Äusserungen. Insgesamt zementieren sie das Bild, dass es in der katholischen Kirche nicht nur eine grosse Zahl von Missbrauchsopfern und entsprechenden Tätern gibt – sondern dass die Kirche sowohl in der Aufklärung und Aufarbeitung als auch in der Öffentlichkeitsarbeit bestenfalls hoffnungslos überfordert ist, schlimmstenfalls aber widerwillig oder gar dezidiert destruktiv und defensiv vorgeht.
Rational erklären lässt sich dies kaum, denn – wie gesagt – dieses traurige Schauspiel liess sich über die letzten Jahrzehnte immer wieder beobachten ebenso wie die daraus resultierenden Folgen, allem voran der massive Verlust von Glaubwürdigkeit. Dabei sollte man doch meinen, es dürfte nicht zu schwer sein, aus vergangenen Fehlern zu lernen. Doch wie auch der Bericht zum Pilotprojekt auf vielfältige Weise demonstriert, sind die Mechanismen zur Selbstkontrolle, zu einem kontinuierlichen Lernprozess und zur Verbesserung des Vorgehens nicht oder nur sehr spärlich ausgeprägt.
Auch vieles andere in dem Bericht überrascht nicht wirklich, wie die Autorinnen selbst formulieren: sowohl die Zahl der Betroffenen von Missbrauch (die Autorinnen begründen im Text, dass sie auf Wunsch von Betroffenen nicht von «Opfern» sprechen), als auch die Zahl der Angeschuldigten dürfte in etwa in der Grössenordnung liegen, die wir aus den Berichten und Gutachten kennen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten in anderen Ländern veröffentlicht wurden.
Mit den Autorinnen und dem Autor ist dabei insbesondere daran zu erinnern, dass hinter jeder der 1‘002 von sexueller oder anderen Arten von Gewalt betroffenen Personen (sowie den Opfern jener 30 Schweizer Personen, die im Ausland missbraucht haben), unsägliches Leid und eine oftmals schwierige oder tragische Lebensgeschichte stehen. Allein schon dies – die Wunden, die Verzweiflung und die Suche nach Heilung der Betroffenen selbst, aber auch ihrer Familien, Freundinnen und Kollegen – sollte ein Weckruf an alle sein, die sich dem christlichen Glauben und der katholischen Kirche angehörig fühlen. Es gilt herauszukommen aus der Lähmung, aus der masslosen Enttäuschung und Wut, und das beizutragen, was jede und jeder für sich und sein Umfeld tun kann: Betroffene von Missbrauch anzuhören, vor ihren Geschichten und ihren Anliegen nicht wegzulaufen, ihren Schmerz und ihre Verwundungen soweit als möglich mitzutragen – und im Gespräch mit ihnen herauszufinden, was Kirche und Gesellschaft hilft, soweit als möglich Missbrauch zu verhindern. Viel zu oft wurden bisher Betroffenen die Türen zugeschlagen, wenn sie sich äussern wollten; wurden die Täter auch von Pfarrgemeinden und deren Laienvertretern mild behandelt – und von Vorgesetzten versetzt; stand der Ruf von Pfarrei, Diözese und Kirche zu weit oben auf der Prioritätenliste.
Der vorliegende Bericht ist das Ergebnis der einjährigen Arbeit eines dreisprachigen Forschungsteams, unterstützt von zwei Studierenden und unter Konsultation von Experten und Expertinnen. Die Forschungsperspektive und Arbeitsweisen entsprechen der geschichtswissenschaftlichen Kompetenz des Forschungsteams der Universität Zürich. Das Autorenteam gibt zu Beginn des Berichtes an, dass «die Autorinnen und der Autor der Studien … unabhängig arbeiten (konnten) und … in keiner Weise in ihrer Forschung beeinflusst» wurden. Auch Anfragen bezüglich Akteneinsicht in Archiven von Diözesen und einigen Ordensgemeinschaften wurden offensichtlich grossteils positiv beschieden. Dass in einer umfassenden Betrachtung und Analyse all dessen, was mit Missbrauch und Vertuschung zu tun hat, auch andere Disziplinen mit einbezogen werden müssen, ist den Autorinnen und dem Autor bewusst. Wiederholt wird auch deutlich darauf hingewiesen, dass es sich um ein «Pilotprojekt» handelt. Eine Reihe von Forschungsanliegen für Folgeprojekte wird benannt.
Das Ergebnis zeigt: Die Schweiz ist mit Blick auf sexuellen Missbrauch, der von kirchlichen Mitarbeitern verübt wurde, und auf seine Vertuschung keine Insel der Seligen. Die Schweizer katholische Kirche zeigt dieselben systemischen Fehler und Unzulänglichkeiten, die in der Kirche weltweit zu Verbrechen und ihrer Vertuschung geführt haben. Ähnliche Ergebnisse wie in anderen Ländern ergaben sich in Bezug auf den Zeitraum, in dem die meisten gemeldeten Missbrauchstaten geschehen sind (etwa die Hälfte zwischen 1950 und 1969); auf eine überwiegende Zahl von männlichen Betroffenen (deutlich mehr als die Hälfte); auf ein im Vergleich zu den diözesanen Strukturen unübersichtliches und undurchdringliches Bild bei den aktuell 153 Ordensgemeinschaften und Kongregationen in der Schweiz (was sich vor allem auch darin zeigte, dass mit einigen Ausnahmen bei grösseren Gemeinschaften kaum entsprechende Dokumente in Archiven verwahrt bzw. aufzufinden waren). Viele mag es überraschen, dass die staatskirchenrechtlichen Besonderheiten, das duale System, und eine grössere Macht von Laien in der Kirchengemeindeleitung sowie die finanzielle Unabhängigkeit vom Bischof keineswegs zu weniger Missbrauch oder klarerem und strengerem Umgang mit Tätern geführt hat. Die auch sonst sehr erhellenden Fallbeispiele, die im Bericht aufgeführt werden, zeigen sehr deutlich auf, dass Klerikalismus nicht ein Phänomen ist, das nur Klerikern vorbehalten wäre. Bei «fortschrittlichen» Pfarreien, Diözesen und Bischöfen haben die gleichen Mechanismen wie bei «konservativen» verhindert, den Missbrauch zu unterbinden und den Täter zu stellen.
Dennoch gibt es einige Schweizer Spezifika. Dazu gehört, dass eine solche Studie erst 2022 in Auftrag gegeben wurde, also deutlich später als in Deutschland oder in Frankreich. Dazu gehören weiters vor allem die verschiedenen Landessprachen, die kulturellen Eigenheiten sowie die unterschiedlichen Rechtssysteme in den Kantonen und die daraus resultierenden Organisationsformen und Verantwortungsebenen in den Landeskirchen, Pfarreien sowie anderen kirchlichen Institutionen.
Im vorliegenden Bericht spiegelt sich wider, dass über die vergangenen Jahre Themen in die Mitte des Interesses gerückt sind, die vor fünf oder zehn Jahren noch nicht wirklich auf der Tagesordnung standen. Dazu gehört die Frage danach, was unter spirituellem Missbrauch zu verstehen ist und welche Rolle er bei der Anbahnung von sexueller Gewalt spielt, genauso wie die Aufmerksamkeit auf Missbrauch von vulnerablen Erwachsenen. Beides wird im Bericht erwähnt und behandelt, wobei die Autorinnen und der Autor immer wieder berechtigterweise darauf hinweisen, dass weitere Auseinandersetzung und Forschung zu diesen Feldern notwendig sind.
Wenn das Autorenteam die historische Einschätzung abgibt, dass in den USA und in Irland «bereits seit Jahrzehnten intensiv zum Thema … geforscht» worden sei, ist mir nicht klar, worauf man sich genau bezieht. Mir scheint bis heute in der Universitätswelt der USA eher ein grosser Widerstand gegen solche Forschungen vorzuherrschen. Dass auch die spanischen Bischöfe eine Untersuchung in Auftrag gegeben haben, die in Kürze erscheinen soll, ist den Autorinnen und dem Autor offenbar entgangen. Diese wenigen Ergänzungen wollen jedoch den Gesamteindruck keineswegs trüben. Der vorliegende Bericht kann zweifellos «die Tür zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem Missbrauch in der katholischen Kirche in der Schweiz» und darüber hinaus öffnen. Es bleibt zu wünschen, dass dies auch tatsächlich geschieht – und dass es heilsam für die Betroffenen sowie aufrüttelnd für alle Katholikinnen und Katholiken in der Schweiz sein wird.