Am 1. Juni 2023 lag die Leerwohnungsziffer im Kanton Zürich bei 0,53 Prozent. Somit herrscht Wohnungsnot. Was heisst das insbesondere für armutsbetroffene Menschen?
Isabelle Lüthi: Für Menschen, die von Armut betroffen sind, ist die Situation besonders schwierig. Das merken wir im Kontakt mit unseren Klientinnen und Klienten. Aus welchem Grund auch immer sie sich an uns wenden, ihre ungenügende Wohnsituation wird immer zum Thema.
Inwiefern ist ihre Wohnungssituation ungünstig?
Unsere Klientinnen und Klienten wohnen in der Regel in beengten Verhältnissen. Das ist vor allem für die Kinder eine Belastung. Wenn sie etwa keinen Rückzugsort haben, wo sie ihre Hausaufgaben machen können. In den Beratungen berichten sie von Wohnungen, die von Schimmel befallen oder stark lärmbelastet sind, was ihnen auf die Gesundheit schlägt. Es kommt vor, dass sie sich fürs eigene Zuhause schämen und deshalb niemanden zu sich einladen, was zu Vereinsamung führen kann. Kurz gesagt: Wohnen ist so viel mehr, als ein Dach über dem Kopf zu haben. Wohnen ist die Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe.
Gibt es eigentlich ein Recht auf Wohnen?
Wohnen ist ein Grundbedürfnis. Das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht, welches bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten wurde. Auch der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der UNO garantiert das Recht auf Wohnen, und dieser wurde von der Schweiz vor 30 Jahren ratifiziert. Die Schweizerische Bundesverfassung kennt allerdings kein Recht auf Wohnen.
Welche Personen sind besonders von der Wohnungsnot und den hohen Mieten betroffen?
Working Poor, Alleinerziehende, kinderreiche Familien – Menschen in finanziell prekären Situationen. Bei armutsbetroffenen Menschen macht Wohnen und Energie über ein Drittel des Haushaltsbudgets aus. Das ist doppelt so viel wie bei einem durchschnittlichen Haushalt. Diese Menschen haben nicht nur wenig Geld, sondern auch wenig Zeit, um sich um eine neue Wohnung zu kümmern. Zudem braucht es einen Computer und Internetzugang und die digitalen und sprachlichen Kompetenzen, um online eine Wohnung zu suchen. Anders hat man heute keine Chance auf dem Wohnungsmarkt.
Welche Unterstützungsmöglichkeiten bietet -Caritas Zürich an?
Wir haben ein Mentoringprogramm für die Stadt Zürich. Im «WohnFit» werden Wohnungssuchende mit kleinem Einkommen von erfahrenen Freiwilligen begleitet. Gleichzeitig sensibilisieren wir von Caritas Zürich Politikerinnen und Politiker für die Bedürfnisse armutsbetroffener Menschen – auch zum Thema Wohnen. Aber in Zeiten von Wohnungsnot und teuren Mieten ist unser Handlungsspielraum begrenzt.
Welche politische Massnahmen schlagen Sie vor?
Mehr Wohnungen allein lösen das Problem nicht. Die Frage ist auch: Welche Qualität hat der Wohnraum? Und können sich Armutsbetroffene die Mieten leisten? Wichtig ist also, dass sich die Mieten an den Kosten und nicht am Markt orientieren. Bis jetzt bieten vor allen Wohnbaugenossenschaften und die Stadt Wohnungen nach diesem Kostenmodell an. Klar ist: Günstiger Wohnraum muss gefördert werden.
Was würde sonst noch helfen?
Wir fordern Familienergänzungsleistungen. Das ist ein probates Mittel, das in verschiedenen Kantonen angewendet wird mit positiven Auswirkungen auf die finanzielle Situation der Familien. Dazu wurde ein Postulat eingereicht im Kantonsrat, das nun in der Kommission diskutiert wird. Nicht zuletzt braucht es staatliche Unterstützung für Programme wie etwa das «WohnFit», für das wir eine Leistungsvereinbarung mit der Stadt Zürich haben. Auch individuelle Wohnbeihilfen für Menschen in prekären Verhältnissen würden helfen.
Wie sieht es mit der Forderung nach verdichtetem Wohnen aus? Ein Grund für die Wohnungsnot ist der hohe Flächenbedarf pro Kopf.
Das ist eine zwiespältige Forderung. Denn bisher hat diese Massnahme dazu geführt, dass bestehender Wohnraum abgerissen und neu gebaut wurde. Das hat zwar mehr Wohnraum, aber auch höhere Mieten ergeben, die unsere Klientinnen und Klienten nicht mehr bezahlen können. Somit werden armutsbetroffene Menschen durch die Verdichtung aus den Städten gedrängt.
Warum sollen Armutsbetroffene in den Städten bleiben können?
Grundsätzlich sollten nicht nur Gutbetuchte wählen können, wo sie wohnen möchten, sondern alle Menschen. Die Städte sind für Menschen mit hohen Lebenskosten auch darum attraktiv, weil dort viele Dienstleistungen angeboten werden. Ein Teil der Dienstleistungen werden von Menschen mit Niedriglohnstellen angeboten etwa in der Reinigung, in der Gastronomie, in der Logistik …
Die meisten Menschen möchten dort wohnen, wo sie arbeiten, und nicht lange und teure Arbeitswege zurücklegen müssen. Häufig gibt es in den Städten auch ein grösseres und bezahlbares Angebot an Kinderbetreuungsplätzen – ein wichtiger Aspekt für Familien mit knappem Budget. Zudem sind Armutsbetroffene oft von Sozialleistungen abhängig, die in der Stadt Zürich sehr gut sind. Werden Armutsbetroffene in andere Gemeinden verdrängt, fallen viele Unterstützungsleistungen weg.
Wo gibt es weitere Ansatzpunkte?
Die Energiekostenzulagen, welche die Stadt Zürich einkommensschwachen Haushalten bezahlt, ist ein gutes Mittel, denn die Ausgaben für Energie und Wohnen machen einen grossen Teil des Haushaltsbudgets aus, und hier gibt es kaum Spielraum zum Sparen. Auch faire Mindestlöhne würden einen Beitrag leisten, um die finanzielle Situation von Working Poor zu verbessern.
Leistet Caritas Zürich Zahlungen?
Wir haben ein neues Projekt, bei dem wir Menschen einmalig unterstützen, wenn sie bei den Nebenkosten teuerungsbedingte Nachforderungen bezahlen müssen.
Wie sieht Ihre Prognose aus?
Ich bin vorsichtig optimistisch, weil das Bewusstsein für die vulnerablen Personen in unserer Gesellschaft gestiegen ist. Das hat vermutlich mit der Corona-Pandemie zu tun. Ausserdem ist das Thema Wohnen auch beim Mittelstand zu einem brennenden Thema geworden. Aber wir dürfen die Bedürfnisse von Menschen in prekären Situationen nicht vergessen – übrigens sind die Mieten auch bei Menschen in der Sozialhilfe ein Thema.
Inwiefern?
Die steigenden Mieten werden auch für Sozialhilfebeziehende zum Problem, wenn die Gemeinden ihre Mietzinsrichtlinien nicht erhöhen. Das führt dazu, dass Sozialhilfebeziehende die Differenz der höheren Mietkosten aus ihrem Grundbedarf bezahlen. Damit haben sie weniger Geld etwa für Lebensmittel, Bekleidung, Mobilitätskosten …