Ich habe das Glück, neuerdings von meinem Büro aus prächtige Gartenanlagen zu sehen. Diesen Luxus geniesse ich seit acht Monaten, seit unser -Institut umziehen musste. Unsere Räumlichkeiten sind nun Teil eines wunderschönen Museumskomplexes, der sich im Herzen der Stadt Mumbai befindet.
Jedes Mal, wenn ich von einem Gebäude zu einem anderen wechsle, bin ich zwischen Grünstreifen und Skulpturen unterwegs. Häufig überkommt mich der Wunsch zu verweilen, die exotischen Skulpturen zu betrachten und mit diesen zeitlosen Gästen ins Gespräch zu kommen. Leider bleibt das ein Wunsch, die passende Zeit zum Verweilen findet sich nie.
In einer Stadt wie Mumbai gibt es keine Zeit zu verschwenden. Wer hier lebt, muss schnell sein. Das ist eine der ersten wichtigen Lektionen, die diese Stadt erteilt. Das Herzstück der Stadt sind die Züge, die alles verbinden und das Tempo der Stadt bestimmen. Obwohl alle drei Minuten ein Zug den Norden mit dem Süden verbindet, drängen sich die Menschen in die Züge hinein. Zu viele wollen mitfahren und keiner will warten. Mumbai ist mit mehr als 20 Millionen Einwohnern Indiens bevölkerungsreichste Stadt.
Jeden Morgen, wenn ich mich zusammen mit den vielen Menschen in einen Zug hineindränge und es mir gelingt, einen Sitzplatz zu ergattern, dann habe ich 30 Minuten Zeit. Diese Minuten sind meine Chance, innezuhalten und in meiner Beziehung mit Gott tiefer zu gehen. In einer meiner Lektüren bin ich kürzlich auf Folgendes gestossen: Der Autor beschreibt, wie in der Vergangenheit die Welt und die Sterne als unbeweglich angesehen wurden. Damals hätten die Menschen Gott durch die Kontemplation, durch die innere Ruhe gesucht, im Gebet in einer Kirche. Heute wissen wir, dass die Welt nicht statisch ist, sondern sich in einer ständigen Evolution befindet. Alles ändert sich kontinuierlich und wir alle sind Teil dieser Veränderungen, in einem Streben nach dem Besseren, nach Perfektion. Die Gegenwart verlangt von uns, nicht mehr still zu stehen und tiefer zu gehen, sondern beteiligt zu sein, uns zu engagieren. Unser Weg führt uns in die Welt, die wir mitgestalten können und müssen.
Der Wunsch, zu verweilen, ist ein uralter Wunsch und sicherlich gerechtfertigt, und man darf ihm auch nachgehen. Jedoch in der Welt von heute wird von uns mehr verlangt: im Trubel zu bleiben und mitzugestalten.
Wenn ich meinen Blick aus meinem Buch erhebe und um mich schaue, sehe ich nicht selten Gesten der Freundlichkeit und Freundschaft um mich herum. Das ist die zweite Lektion, die mir diese Stadt erteilt: mitmenschliche Beziehungen. Sie zählen hier mehr als alles andere. Der Druck und Stress, dem alle täglich ausgesetzt sind, wird in Kauf genommen, während Beziehungen zu pflegen und zu bewahren, allem vorangestellt wird.
Wird nicht hierin die wahre Veränderung der Gesellschaft lebendig? Der Mitmensch im Zentrum unserer Aktivitäten?