Und wo war ich? Versuch einer Gewissenserforschung

Standpunkt

Und wo war ich? Versuch einer Gewissenserforschung

Rolf Bezjak, langjähriger Seelsorger und Synodalrat, stellt sich dieser Frage angesichts der Missbrauchsstudie und der Veröffentlichung erster Zahlen zum Ausmass des sexuellen Missbrauchs.

Seit fast 50 Jahren bin ich in der Zürcher Kirche als Seelsorger tätig. Nun ist der Missbrauchsbericht für die Schweiz veröffentlicht. Mit Interesse hatte ich in den letzten Monaten die Berichte aus den Bistümern Mainz, Freiburg und Köln gelesen. Grässlich, erschütternd, kaum zu glauben. Etwas gänzlich anderes, so war mir klar, würde uns hier in der Schweiz auch nicht erwarten. Aber es betrifft mich mehr und sehr persönlich. Warum?

Selbstverständlich stehen im Mittelpunkt der Aufklärungen die Opfer. Um sie muss es in allererster Linie gehen – hätte es längst gehen müssen. Die Rede ist von den Tätern, natürlich und unabdingbar. Und die Bischöfe, die Verbrechen geduldet, gar gedeckt haben, sind auch prominent im Spiel.


Ich gehöre dazu

Es gibt aber eine weitere Gruppe von «Betroffenen», von denen bisher nicht die Rede ist. Zu diesen gehöre ich.

Wie gesagt: Seit 1975 arbeite ich in der Zürcher Kirche, in sehr verschiedenen Funktionen. Und ich frage, hintersinne mich, stelle mich immer wieder neu auf die Probe: Wo habe ich versagt, weggeschaut, etwas übersehen, das ich hätte sehen müssen, wo war ich nicht sensibel, nicht sensibilisiert genug?

Ein Freund, Psychologe, sagt mir, ich hätte – zugegebenermassen «naiv» – meinen Kolleginnen und Kollegen getraut, ihnen nichts Böses unterstellt. Eigentlich sei es gut, nicht gegen jeden Menschen von vorneherein Verdacht zu hegen. Tröstet mich das?

Ich erinnere mich genau, dass ich, als Anfang der Nuller-Jahre das Thema erstmals laut wurde, sensibilisiert wurde. Mir war klar: Sollte ich bei einem Kollegen oder einer Kollegin oder sonst jemandem im Umfeld auch nur den Verdacht auf einen Missbrauch erkennen, würde ich das melden. Doch in all der Zeit gab es für mich keinen einzigen Hinweis auf eine solche Tat. 50 Jahre in der «Firma» – und ich könnte keinen Namen im Zusammenhang mit Missbrauch nennen. Wo, warum habe ich versagt?


«Nichts gewusst»

Rückblick: Aufgewachsen nach dem Krieg in Deutschland, hatte ich mit meinen Eltern oft Streit wegen der Ereignisse im «Dritten Reich». Ich habe ihnen an den Kopf geworfen, nicht zu glauben, dass sie «nichts gewusst» hätten. Und nun erfahre ich von den Verbrechen in der Kirche und muss sagen, wie meine Eltern: Ich habe «nichts gewusst». Gilt als Ausrede die Unterscheidung: Was im Dritten Reich geschah mit den Nachbarn, den jüdischen und den nicht gewollten, war öffentlich. Missbrauch dagegen geschehe immer im Geheimen, das sei seine Natur. Höchstens ein schwacher Trost.


Wütend auf die Kirche und auf mich selbst

Ich bin verärgert und wütend über das, was in «meiner Kirche» geschehen konnte. Und wütend, dass man mich so hinters Licht führen konnte. Ich mich so hinters Licht führen liess.

Als Nicht-Priester, nicht einmal Kleriker (da ich zweimal die bischöfliche Anfrage deutlich verneint hatte, Diakon zu werden), als kirchlicher Mitarbeiter also ohne jeglichen Amtsbonus – weder bei der Kirche noch bei den Gläubigen – habe ich versucht, Menschen in ihrem Leben seelsorgerlich zu begleiten. Und ich weiss, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen das ebenso getan haben und tun. Das war und ist wertvoll. Den Opfern aber nicht geholfen zu haben, die so sehr unter manchen «Kollegen» litten, tut weh und stellt Fragen: Wo war ich? Wohin habe ich geschaut? Warum mit Blindheit geschlagen?

Sicher nicht, um ein System zu retten und zu schützen, das mir, als verheiratetem Theologen, systemgetreu nur die Hinterbank zuwies im Unterschied zu den Geweihten, selbst jenen, die offensichtlich den Pfarrerbonus schändlich ausnutzten oder ihre Partnerschaft halbgeheim lebten. Systemrettung: Dafür gibt es keinen Grund. Vielmehr waren wir als nichtgeweihte Theologinnen und Theologen ja gerade angetreten, um aufzuzeigen, dass Vieles anders möglich wäre, als von Rom vorgegeben. Und dies in der Regel mit einer grossen Akzeptanz der Pfarrgemeinden.


Struktur und System müssen ändern

Kein einziger Missbrauch, keine einzige dieser kriminellen Taten kann entschuldigt werden. Und doch: Gesehen habe ich in der Kirche – neben all den öffentlichen Skandalen, die sehr weh taten, aber weit weg waren – sehr viel Gutes, Christliches, Menschenfreundliches.

Ich weiss nicht, ob mir das als Trost genügen kann. Nein! Kann es nicht! Struktur und System der Kirche müssen radikal ändern. Hierarchie, «heilige Ordnung», ist nichts grundsätzlich Böses, aber «heilig» muss sie sein. Das ist sie nicht, wenn Verbrechen gedeckt und ungestraft stattfinden können. Meine Kirche muss vom Feudalsystem zu einer synodalen Ordnung finden, in der die absolute Macht nicht nur in den Händen weniger Männer liegen darf.

Text: Rolf Bezjak