Die Kraft der Wiederholung

Essay

Die Kraft der Wiederholung

Sie hat einen miesen Ruf. Mit ihr verknüpfen wir Wörter wie Fliessband, Drill, Fantasielosigkeit, Kommerz und Langeweile. Wiederholung geht aber auch anders …

Kinder erleben wir selten als langweilige Geschöpfe, obwohl sie bis zur Erschöpfung auf Wiederholungen stehen. Wer ihnen Bildergeschichten vorliest, weiss, wie das geht: Taucht eine Lieblingsgeschichte auf, steht sie Abend für Abend auf dem Programm. Zwanzigmal! Dreissigmal!! Bis die Versuchung zu gross wird: Die Vorlesenden bringen eine kleine Variante unter … und ernten pfeilschnell eine knackige Reaktion: «Das stimmt so nicht! Du musst es genau gleich erzählen wie immer!!»

Dem französischen Philosophen Roland Barthes (1915 – 1980) ist die Obsession für Wiederholungen sowohl bei Kindern wie bei alten Menschen aufgefallen. Auch sie lesen immer wieder die gleichen Bücher, rezitieren die gleichen Gedichte und singen die gleichen Lieder. Aus dieser Beobachtung hat Barthes eine überraschend andere Sicht auf die Wiederholung entwickelt. In seinem Buch «S. Z.» verteidigt er vehement die wiederholte Lektüre, weil sie «den kommerziellen und ideologischen Gewohnheiten unserer Gesellschaft zuwiderläuft, die es gerade nahelegt, die Geschichte ‹wegzuwerfen›, sobald sie konsumiert (‹verschlungen›) worden ist.»

Barthes entdeckt in der Wiederholung einen Widerstand gegen einen Kapitalismus, der immerzu auf Konsumsteigerung drückt. Er ist überzeugt, dass erst durch Wiederholung auch Differenzierung möglich wird. Provokativ behauptet er: «Wer es vernachlässigt, wiederholt zu lesen, ergibt sich dem Zwang, überall die gleiche Geschichte zu lesen.»

Erst wer einen Text mehrmals liest, entdeckt seine Nuancen. Diese Erfahrung bringt die Redensart «zwischen den Zeilen lesen» zum Ausdruck. Durch die Wiederholung beginnt sich der Text zu wandeln – weil sich unsere Wahrnehmung verändert. Durch Wiederholung kann uns ein Text sogar wieder ganz fremd werden. Wer das nicht glauben mag, soll einfach irgendein vertrautes Wort ruhig und gelassen an die fünfzig Mal wiederholen. So lange bis es sich wieder seltsam und fremd anhört.

«Marilyn Monroe» (1967) von Andy Warhol. Aufgenommen am 23. Oktober 2023 während einer
Ausstellung in Moskau. (Foto: Keystone)

Andy Warhol (1928 – 1987) hat sich die kindliche Obsession für Wiederholungen nie austreiben lassen. Und er hat sich damit an Dingen ausgetobt, die als pure Konsumgüter ohne jeden Zauber gelten. Reihenweise produzierte er Siebdrucke von Suppendosen und Cola-Flaschen. Solchen Objekten konnte nicht einmal Roland Barthes etwas abgewinnen. Er nannte sie deshalb «unreligiös».

1962, kurz nach dem Tod von Marilyn Monroe, beginnt Warhol sein berühmtestes Wiederholungswerk. Er widmet der Monroe eine ganze Reihe von Bildserien. Immer wieder verwendet er dafür dasselbe Foto. Verändert oder unverändert. Einzeln im übermächtigen Goldrahmen. X-fach neben- und untereinander aufgereiht. In einem Dyptichon schier endlos wiederholt. Warhol erkennt Marilyn Monroes Aura und ihren Nimbus als Ikone. – Mit solchen Worten adeln wir Stars. Und sind uns nicht bewusst, dass wir jene Sprache verwenden, mit der in der Kirche Heilige beschrieben und dargestellt werden.

Warhol hat über sich selbst und seine Kunst gesprochen, als wollte er Roland Barthes recht geben: «Wer alles über mich wissen will, der muss nur die Oberfläche meiner Bilder, meiner Filme betrachten: Es gibt nichts dahinter.»

Am 1. April 1987 allerdings wurde das von Warhol so hingebungsvoll zelebrierte Selbstbild aufgebrochen. Über 2000 Menschen waren zu einem Gedenkgottesdienst für den wenige Wochen zuvor verstorbenen Künstler erschienen und vernahmen Unerhörtes. In seiner Trauerrede enthüllte John Richardson, dass Warhol tief religiös gewesen sei. Die Familie des 1928 in Pittsburgh als Andrew Warhola geborenen Künstlers stammte aus der heutigen Slowakei und gehörte der byzantinisch-katholischen Kirche an. Warhol blieb dieser Tradition nicht nur treu, er pflegte sie durch tägliche Wiederholung. «Man darf Andy nie auf den ersten Blick glauben», ermahnte Richardson, «der gefühllose Beobachter war im Grunde ein aufzeichnender Engel.» Die Ikonenmalerei, die Heiligenbilder, die seit seiner Kindheit um ihn herum gewesen waren, sie hatten ihn nachhaltig geprägt. Warhol war nicht nur der «Pope of Pop», er war auch der Ikonenmaler der Moderne.

Ikonen arbeiten aus Prinzip mit Wiederholungen. Es werden Vorlagen nach strengen Regeln kopiert. Die Individualität entfaltet sich erst im wiederholten Blick der sich vertiefenden Betrachtung. (Foto: iStockphoto)

Marco Odermatt zieht hunderttausendfach die gleichen Schwünge. – Meryl Streep übt ein Leben lang die alltägliche Geste. – Yo-Yo Ma spielt seit fünfzig Jahren täglich aus den Solosuiten von Bach. – Benediktiner und Benediktinerinnen beten seit Jahrhunderten jede Woche sämtliche Psalmen.

Sollte in ihnen die Langeweile hochsteigen, würde ihrem Können ganz schnell die Kraft ausgehen. Wer sich von der Wiederholung nicht mehr herausfordern und inspirieren lässt, wer sich im ewig Gleichen nicht ständig erneuern kann, dem droht die Entfremdung. Und diesen Moment kennen alle Meisterinnen und Meister der Wiederholung: Wenn das Einfache nicht mehr leicht von der Hand geht und das Vertraute über Nacht fremd wird.

Kinder verausgaben sich in Wiederholungen mit einer Vitalität, die Erwachsene atemlos zurücklässt. An ihnen wird sie sichtbar, die urwüchsige Kraft der Wiederholung, die nichts anderes als Lernen ist. Die Sicherheit, die sie in der immer gleichen Geschichte gewinnen, sie macht den Aufbruch zu immer neuen Erkenntnissen erst möglich.

Text: Thomas Binotto