Und so habe ich mich unter anderem gefragt: Wie haben meine Eltern mein Verhältnis zur Religion geprägt?
Oberflächlich betrachtet bin ich traditionell katholisch aufgewachsen. Meine Eltern haben mir biblische Geschichten erzählt und mich in den Gottesdienst mitgenommen. Das Tischgebet und der sonntägliche Gottesdienstbesuch waren selbstverständlich.
Viel stärker ausgewirkt hat sich jedoch, dass sie mir auch theologische Lektüre vermittelt haben. Dass am Familientisch über religiöse Fragen intensiv und kontrovers diskutiert wurde. Dass Religion mit ihrer vielfältigen Ausstrahlung in die Kunst präsent war.
Am prägendsten empfinde ich jedoch die erstaunliche Offenheit, mit der dies alles geschah. Nie – auch nicht als Kind oder Jugendlicher – hatte ich den Eindruck, eine bestimmte Religiosität leben oder einen bestimmten kirchlichen Weg gehen zu müssen. Daraus haben sich – zunächst unbewusst und im Laufe der Jahre immer entschiedener – meine Leitlinien einer religiösen Erziehung entwickelt. Sie skizzieren auch mein heutiges Verhältnis zum Glauben.
Mein Symbolbild dafür ist ein Fenster. Und ja, dieses Fenster hat einen klaren Rahmen. Ich habe eine religiöse Prägung. Ich bin in einer konkreten religiösen Kultur aufgewachsen. Ich verfüge über «katholisches» Know-how. Die Kirche ist Teil meiner Beheimatung. Aber dieser Rahmen ist kein Selbstzweck und schon gar keine Grenze.
Ein Sinn des Fensters besteht darin, dass es Licht in meine Innenräume lässt. Dieses einströmende Licht produziere ich nicht selbst. Ich kann es auch nicht besitzen oder konservieren. Es entsteht täglich neu und anders. Und es ist zeitweise auch abwesend.
Eine zweite Bestimmung des Fensters erfüllt sich, wenn ich es öffne. Wenn ich an das offene Fenster trete, zeigen sich neue Perspektiven, erweitert sich mein Horizont, werden Dinge sichtbar, die mir zuvor verborgen blieben.
Rahmen und Fenster bedingen einander: Damit ich Weite wahrnehmen kann, benötige ich einen Rahmen. Und damit der Rahmen Sinn ergibt, muss ich das Fenster öffnen.
Religiöse Erziehung, wie ich sie verstehe, vermittelt als Rahmen konkretes Wissen und praktische Übung. Es gibt für niemanden eine Zukunft ohne Herkunft. In irgendeine Erde werden wir immer gepflanzt.
Das Ziel der religiösen Erziehung ist jedoch nicht die Aufzucht einer vordefinierten Gestalt. Es geht nicht darum, aus Kindern korrekte Katholikinnen oder Katholiken zu machen, nicht einmal korrekte Christinnen und Christen. Es geht darum, Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, sich frei und gleichzeitig gut überlegt neue Räume zu erschliessen. Sie sollen den Horizont ihres Lebens selbst entdecken und laufend erweitern können. Je freier sie das tun, desto dankbarer werden sie sich an den Rahmen erinnern, der auch die Angel zur Weltoffenheit bildet. Ich jedenfalls bin meinem Vater dankbar dafür. Und konnte ihm dies glücklicherweise noch zu Lebzeiten zeigen.