Hauptsache, man macht keinen grossen Bogen um die Menschen

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Hauptsache, man macht keinen grossen Bogen um die Menschen

Die Spitalseelsorgerin Anne Heither-Kleynmans aus Altstätten im St. Galler Rheintal begegnet täglich Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Ein Gespräch über die Suche nach richtigen Worten in Momenten, in denen sich Sprachlosigkeit ausbreitet.

Sie sind Spitalseelsorgerin und leiten ein Trauercafé. Sie sind schwierige Momente gewohnt. Wann fällt es Ihnen dennoch schwer, das Richtige zu sagen?

Anne Heither-Kleynmans: Das ist für mich immer dann der Fall, wenn die Umstände besonders schwierig sind. Im Spital etwa, wenn junge Mütter oder Väter im Sterben liegen oder ich Menschen begegne, die viele schwere Schicksalsschläge erlitten haben. Ich habe einmal eine ältere Frau getroffen, deren Mann und zwei erwachsene Kinder innerhalb von fünf Jahren gestorben sind. Das macht einen sprachlos.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie sich im ersten Moment sprachlos fühlen?

Ich denke, das Schlimmste ist, wenn man dann einfach weiter redet und vielleicht sogar zu viele Worte wählt. Mir ist es wichtig, dass ich innehalte und dann auch sage und benenne, dass ich auf bestimmte Situationen kaum etwas zu sagen weiss. Und ich fasse in Worte, was es in mir auslöst. Dann versuche ich herauszufinden, was mein Gegenüber gerade beschäftigt.

Um beim Beispiel von der sterbenden jungen Mutter oder dem jungen Vater zu bleiben: Manchmal beschäftigen ganz alltägliche Dinge wie der Geburtstag des 4-jährigen Sohnes: Wer organisiert das Fest, während man selbst schwerkrank im Spital liegt? Andererseits sind da der Zweifel und das Hadern mit seinem Schicksal. Ich versuche daher bei jedem Gespräch zu verstehen, in welcher Situation sich jemand befindet.

Das heisst aber auch: Einen fixen Ablauf für Gespräche in schwierigen Lebenssituationen haben Sie nicht.

Nein, für mich gibt es überhaupt keinen festen Ablauf. Fix ist nur, dass ich mich am Anfang eines Gesprächs vorstelle, falls ich jemanden noch nicht kenne, und am Schluss versuche, einen runden Abschluss zu machen. Das ist manchmal ein Segen, ein Gebet, eine Krankenkommunion oder einfach Wünsche, die auf mein Gegenüber zutreffen. Das sollen keine Floskeln sein, sondern zusammenfassen, was aus meiner Sicht für jemanden das Wichtigste zu sein scheint. Das trifft sowohl auf Gespräche zu, die eine Viertelstunde dauern, wie auch lange Gespräche.

Klappt das immer gleichermassen gut?

Einen Abschluss mit den richtigen Worten zu finden, funktioniert schon einfacher bei Gesprächen, die in die Tiefe gehen. Ich hatte einmal eine hochaltrige Patientin, die als Kind eine verstörende Gewalttat beobachtet hatte. Sie hatte noch nie zuvor jemandem davon erzählt. In dem Moment, als sie mir davon erzählte, war sie sehr bewegt. Das lag ja 85 Jahre zurück. Wenn man über so etwas redet, braucht es viel Zeit und geht in die Tiefe. Da kommen viele Emotionen hoch.

Was sagen Sie, wenn Ihnen jemand von einer so schrecklichen Erinnerung erzählt? Naheliegend vielleicht «Was, wirklich?», «Ist das wahr?», «Im Ernst?».

Na ja, von einer solchen Erinnerung zu erzählen, kommt ja nicht aus heiterem Himmel, sondern bahnt sich im Gespräch langsam an. Häufig merke ich, dass Menschen mir noch etwas erzählen wollen, wenn ich zum Gesprächsabschluss komme. So ein Gespräch ist ein gemeinsames Durcharbeiten von verschiedenen Themen. Wenn ich da die falschen Worte wählen würde wie «Das lassen wir jetzt mal sein», könnte unser Gespräch unangemessen schnell beendet sein.

Sie sind seit 16 Jahren Seelsorgerin, 12 davon Spitalseelsorgerin. Finden Sie heute die passenden Worte besser als früher?

Ja, ich bin heute geübter. Gesprächsführung ist ja Teil der Ausbildung zur Spitalseelsorgerin. Gelernt habe ich in all dieser Zeit aber auch, dass es nicht nur um Worte geht. Die Haltung beispielsweise ist genauso wichtig: Bin ich zugewandt und verständnisvoll? Ausserdem sind manchmal Gesprächspausen wichtig. Diese geben Raum, sich zu öffnen.

Im Spital haben Sie mit schwerkranken Personen zu tun, im Trauercafé mit Angehörigen. Was ist für Sie schwieriger?

Dafür habe ich keine pauschale Antwort. Jeder Mensch und jede Situation ist einzigartig. Im Gespräch mit anderen zu sein, ist immer individuell. Man kann Leid nicht abwiegen. Das eine Leid ist nicht schlimmer als das andere. Und es geht immer auch darum, nach Positivem und nach Ressourcen zu suchen.

Im Trauercafé treffen so viele verschiedene Personen mit verschiedenen Geschichten und Erlebtem aufeinander. Wie schafft man es da, eine gemeinsame Sprache zu finden?

So unterschiedlich das Erlebte ist, ich finde dennoch, dass sich Trauernde untereinander bestärken. Oft hilft es Personen, die neu ins Trauercafé kommen, wenn sie hören, was anderen in Krisensituationen geholfen hat. Das sollte aber nicht als Aufforderung oder Befehl formuliert werden, also in der Art von «Mach doch auch mal das und das». Was dem einen geholfen hat, muss für die andere nicht gleich hilfreich sein. Aber wenn jemand von seiner eigenen Erfahrung erzählt, versuchen andere das vielleicht auch einmal aus. Oft sind es auch die tröstenden und bestärkenden Worte von uns Leitenden und den anderen Trauernden, die die Betroffenen als hilfreich empfinden, gerade weil Trauernde leider oft auch Worte hören, die sie sehr verletzen.

Ganz konkret: Was sollte man eher nicht sagen?

Zum Beispiel «Das kommt schon wieder gut.» oder «Zeit heilt alle Wunden». Das sind Floskeln oder Sprüche, die oftmals aus Hilflosigkeit gesagt werden.

Wieso fallen uns oftmals genau solche Floskeln als Erstes ein?

Ich denke, es ist Gewohnheit. Das ist wie mit dem «Wie geht es dir?». Auch das werden Trauernde ständig gefragt. Aber wenn sie anfangen zu erzählen, interessiert es die Fragenden vielfach bereits nicht mehr. Wir sagen solche Sätze oft, ohne uns dabei bewusst zu sein, was in ihnen steckt. Wenn man beispielsweise gerade keine Zeit hat für ein Gespräch, wäre es ehrlicher, zu sagen: «Schön, dass ich dich sehe. Ich kann mir vorstellen, dass es schwer im Moment ist für dich. Ich melde mich morgen bei dir.» Dann ist es aber auch wichtig, das einzuhalten und sich wirklich am nächsten Tag zu melden.

Welche Worte sind beim Kondolieren passend? Und ist es zum Beispiel angemessen, jemandem über WhatsApp zu kondolieren?

Ich denke, es muss immer auch für einen selbst stimmen. Ob man schriftlich, mündlich oder sogar per WhatsApp kondoliert, hängt von der eigenen Persönlichkeit ab und davon, auf welchem Weg man mit der angesprochenen Person sonst kommuniziert. Wie man kondolieren soll, ist ein riesiges Thema und es gibt viel Unsicherheit, was heute angemessen ist. Man kann beim Kondolieren sagen, was einem wichtig ist. Beispielsweise «Ich denke an dich» oder «Ich wünsche dir Kraft». Im Moment des Kondolierens kann man sich auch auf sein Gefühl verlassen. Hauptsache ist: Man macht keinen grossen Bogen um die betroffenen Menschen oder denkt «Oh, jetzt ist es eh zu spät». Seine Anteilnahme kann man auch Wochen später ausdrücken und sich dann beispielsweise daran erinnern, was einen mit dem verstorbenen Menschen verbunden hat.

Haben Sie selbst schon einmal eine Reaktion erhalten, die Sie als völlig unpassend empfanden?

Dass ich mich in alltäglichen Situationen missverstanden fühle, kommt natürlich immer wieder vor. Da denke ich dann, mein Gegenüber hat jetzt gar nicht verstanden, worum es mir geht. Generell gilt es im Gespräch mit jemandem, achtsam und aufmerksam zu sein und Floskeln zu vermeiden.

Text: Nina Rudnicki, Pfarreiforum St. Gallen